Mittwoch, 26. März 2008

Georg Grimm - Selbstlosigkeit III

Für den unbefangenen Normalmenschen sind die bisherigen Ausführungen selbstverständlich, so selbstverständlich, daß er sich sogar über die Papierverschwendung beklagen möchte, die in diesen teuren Zeiten mit derartigen Darlegungen ge­trieben wird. Wie ist es aber dann möglich, daß es gleich­wohl so gar manche gibt, die es durchaus wahr haben wollen, daß, wenn sie selbstlos handeln, dann nicht mehr sie selbst handeln, sondern — ja, lieber Leser, wer dann noch handeln soll, wenn sie selbst nicht mehr handeln, das weiß ich nicht; da mußt du sie schon selber fragen. Solcher innerer Wider­sinn wird möglich, wenn man nicht mehr unbefangen denkt, d. h., wenn man nicht mehr objektiv denkt, wenn man das Objekt seines Denkens, hier die Sprache, speziell das Wort „selbstlos", nicht mehr so nimmt, wie es an sich ist, sondern wie man es gern haben möchte, gern haben möchte zur Stütze verkehrter Ansichten, die man sich anderweit gebildet hat. Mensch zum wilden reißenden Tier, das alles auffrißt, was sich ihm in den Weg stellt, den Guten und den Bösen, den Freund und den Feind. Ja, der in das Garn, den Hag seiner Ansichten verstrickte Philosoph haust noch viel schlimmer als das wildeste reißende Tier: er vernichtet radikal alles, was nicht zu seinen Ansichten stimmen will; wenn es sein muß, diese ganze vor uns ausgebreitete Welt, wie es Kant in seiner transzendentalen Ästhetik getan hat. Ja, die ganz Kleinen dieser reißenden Philosophen vernichten sogar die Logik, d. h. also die Gesetze des Denkens, soweit sich diese Gesetze als ihren Hirngespinsten hinderlich erweisen, sägen also den Ast ab, auf dem sie selber sitzen, und bilden sich noch dazu nicht wenig auf diese „Logik-Unfähigkeit" als den adä­quaten Ausdruck der „Wirklichkeit" ein. Hier, im harmlosen Philosophen, zeigt sich also der Mensch in seiner ganzen Schrecklichkeit. Doch der Leser gerate ob dieser Schrecklich­keit nicht selber in Furcht und Schrecken! Mit der Schrecklich­keit dieser Philosophen ist es nämlich nicht allzuweit her. Ihr Vernichtungswerk ist nämlich gar kein wirkliches Vernichtungs­werk, es besteht nur in ihrer Einbildung — hier haben wir eine wirkliche Einbildung: die Welt steht heute noch 'trotz Kant so, wie wir sie sehen, und auch der eingefleischteste Kantianer wird seine Sätze von der Idealität des Raumes und der Zeit solange aus seinem Gehirn entlassen und in seiner Studierstube verwahren, als er selber im Kampfe mit der Welt, mitten in ihr stehend, ihre grause Realität jeden Augen­blick an sich erfährt. Und auch der „eingeschnellteste" A-logiker wird so logisch, als es ihm nur möglich ist, denken, wenn es gilt, sich einen preiswerten Anzug zu kaufen. Im übrigen aber sorgt schon die natürliche Vernunft der Anderen dafür, daß alles, was nicht von ihr verdaut werden kann, wieder ausgespien wird.
Welches ist dann aber der eigentliche Grund dafür, daß man sogar das harmlose Wort „selbstlos" mit einem zur ein­stimmigen Auffassung der ganzen übrigen Menschheit in direktem Gegensatz stehenden Inhalt anfüllen will? Es ist der folgende Syllogismus: Ein Substrat für den reinen Ich-Begriff — das intelligible Ich Kants — ist schlechterdings nicht zu erkennen. „Wir kennen nur die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken", die aber eben nur Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken, nicht aber ein „Ich" sind. Also gibt es überhaupt und schlechterdings kein eigentliches „Ich". Es muß also auch die Sprache, so­weit sie mit dieser Erkenntnis im Widerspruch steht, korrigiert werden: „ ,Es denkt', sollte man sagen, so, wie man sagt: ,es blitzt'." Nun vervollständige man diesen Syllogismus einmal, indem man ihm seinen stillschweigend postulierten Obersatz ausdrücklich voransetzt. Dann lautet er: Was nicht zu erkennen ist, ist auch schlechterdings nicht, ist in keinem Sinne, ist absolut nicht. Ein Substrat für den reinen Ich-Begriff ist nicht zu erkennen. Also gibt es eben ein solches Substrat auch schlechterdings nicht. Springt nicht in die Augen, daß hier der Obersatz eine kolossale petitio principii in sich schließt? Wer garantiert mir denn, daß die Begriffe „Erkennbar" und „Sein" einerseits und „Unerkennbar" und „Nichts" andererseits sich schlechthin und in jedem Sinn decken? Wer kann die Möglichkeit ausschließen, „daß unser Erkenntnisvermögen mit seinen materiellen Sinnenorganen schon als solches ungeeignet ist, die Grenzen des Möglichen, ins­besondere eines möglichen Immateriellen zu umspannen", auf welches unerkennbare Immaterielle, eben deshalb, natürlich auch keinerlei Wort und Begriff, auch nicht der der Substanz, mehr zuträfe?Wenn aber diese Möglichkeit schlechterdings nicht ausgeschlossen werden kann, wie windig steht es dann mit jenem Standpunkt, der vor dieser Möglichkeit einfach die Augen schließt!
Wie windig er ist, wird noch deutlicher, wenn man sich erinnert, daß ja schon die Analyse des Erkenntnisprozesses mit grausamer Unerbittlichkeit darauf hinführt, daß sogar schon das erkennende Subjekt selber nicht mehr erkannt zu werden vermag: „Nicht erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens", oder, mit anderen Worten, daß schon — ich selber, der ich ja doch eben dieses erkennende Subjekt bin, mir unbekannt bin, daß also tatsächlich das Substrat des reinen Ich-Begriffs jenseits des Erkennbaren liegt, eine Er­kenntnis, die der Buddha in seinem Anatta-Gedanken, der besagt, daß ich in nichts von dem, was ich vergehen sehe und was mir mit dem Eintritt dieser Vergänglichkeit Leid bringt, bestanden sein kann, zur strahlenden Klarheit er­hoben hat!
Kann es nach alledem eine größere petitio principii, eine größere unbewiesene Voraussetzung geben, als den Standpunkt, der da kurzweg dekretiert: Das erkennbare Positive allein, ja, bloß das mir erkennbare Positive ist das Wirkliche und damit zugleich das überhaupt Mögliche, und der auf eine solche „Wirklichkeitslehre" seine ganze „Weltanschauung" aufbaut? Gehört nicht auch jene schlechterdings und absolut zwingende Erkenntnis eines möglichen Immateriellen und gehört damit nicht auch dieses Immaterielle selbst als ein Mögliches schon für das normale Denken der Wirklichkeit an? Ist nicht auch die nüchterne Reflexion, die bei der Analyse des Erkenntnis­prozesses das Subjekt des Erkennens zwar als gegeben, aber im übrigen als nicht erreichbar feststellen muß, „wirklich"? Und ist damit nicht auch dieses im übrigen nicht erreichbare Subjekt des Erkennens selber als „wirklich" festgestellt? Ist es 'keine Tatsache der Wirklichkeit, wenn ich mich selber durch das unaufhörliche Vergehen alles Vergänglichen an mir unberührt finde, ja, wenn ich jeden Augenblick unmittelbar empfinde, daß mir dieses Vergehen des Vergänglichen sogar Leid verursacht, ein Leid, das ich auch nach dem Vergang noch weiter empfinde, und sei das, was untergegangen ist, auch mein eigenes — früheres — Denken gewesen? Was ist das aber dann für eine „Wirklichkeitslehre", die alle diese wirklichen Tatsachen, ja, diese Urtatsachen aller Wirklichkeit überhaupt einfach unberücksichtigt läßt, ja, sie absichtlich ignoriert? Wird so der Begriff „Wirklichkeit" nicht zum Prokrustes-Bett gemacht, indem man alles, was man nicht „wirklich" haben will, und sei das auch das Grundgerüst aller Wirklichkeit selber, einfach abhackt? Die „Wirklichkeit" ist eben etwas größer als das Gehirn gewisser Leute.
So ist es also ganz richtig, daß das Substrat für den reinen Ich-Begriff unerkennbar ist. Aber so richtig das ist, so ver­kehrt und aller „Wirklichkeit" ins Gesicht schlagend ist der aus der Unerkennbarkeit des Substrats des Ich-Begriffs gezogene Schluß, daß deshalb dieser Ich-Begriff überhaupt kein Substrat habe und damit selber in jedem Sinn zu einer reinen Illusion werde. Richtig ist nur, daß dem Ich-Begriff kein erkennbares Substrat zugrunde liegt, sondern daß dieses Substrat, nämlich eben — ich selber, mit der ganzen Urrealität, in der ich mich selber jeden Augenblick erfahre, im Unerkennbaren liegt, und richtig ist, daß es, eben deshalb, einen Ich-Begriff im positiven und damit im eigentlichen Sinne nicht gibt, sondern nur den Begriff des transzendenten Ich, d. h. einen Begriff, dessen Sub­strat nur und ausschließlich negativ bestimmt werden kann: alles Erkennbare ist nicht mein Ich, oder, was dasselbe ist: Es bleibt die Tatsächlichkeit — nicht mehr! — des Substrats des reinen Ich-Begriffs bestehen, ohne daß dieses Substrat doch irgendwie gefaßt werden könnte: „Einen also geisterlösten Mönch dann noch aufzuspüren, so daß sie sagen könnten: ,Dies ist das Substrat für das Erkennen eines Vollendeten' gelingt selbst den Göttern, eingeschlossen Indra, Brahma und Pajäpati nicht. Und warum nicht? Schon bei Lebzeiten ist ein Vollendeter unerfaßbar."
Man sieht, das unmittelbare Gefühl der Menschheit, d. h. die unmittelbar aus dem Wesen des Menschen geborene Er­kenntnis, hat auch hier wieder einmal das Richtige getroffen, wenn es zu allen Zeiten und in allen Sprachen die Sätze formte: „ ,Ich' habe einen Körper, ,ich' habe Empfindungen", nicht aber die Sätze: „Ich bin der Körper, ich bin Empfindung." Und es ist nicht an dem, als ob unsere modernen Geistes-„Riesen" diese Urerkenntnis der gesamten Menschheit über den Haufen zu werfen hätten, ein Unternehmen, dem gleich, als ob man der Erde das Urgestein, auf dem sie ruht, unten wegziehen wollte, sondern auch diese Zwerge werden sich mit der Urwahrheit abzufinden haben, daß eben doch das „Ich" der Urgrund von allem ist, so sehr Urgrund, daß bis zu ihm hinunter nie ein Strahl der Erkenntnis gedrungen ist, auch nicht der Erkenntnisstrahl eines Buddha. Freilich, in der Richtung dieser Urerkenntnis liegt auch der Urirrtum der Menschheit, den allein der Buddha berichtigen wollte und berichtigt hat, nämlich der Irrtum, der das Ich, seine Tat­sächlichkeit als solche nicht bezweifelnd, aus seinen Tiefen heraushebt und es in eine wesenhafte Beziehung zu den allein erkennbaren Elementen der Persönlichkeit bringt.

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