Samstag, 29. März 2008

Georg Grimm - "Das Wesentliche"

"Wie aber hat dann der Buddha das Weltwesenhafte bezeichnet ? Oder hat er sich überhaupt nicht mit ihm befaßt ? Wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt, haben die Mystiker, die so heißen, nicht etwa, weil der von ihnen gegangene Weg ein mystischer, d. h. nicht weiter mitteilbarer wäre, sondern die so heißen, weil sie zu dem Ur-Mysterium, das ist eben dem Weltmysterium, vorgedrungen sein wollen, zuerst geschaut und dann das geschaute Wunderding in ihrer Reflexion als den Bannkreis des Weltwesenhaften erkannt, das sie dann mit den ihnen geläufigen Namen „Brahman", „Gott", „Gottheit" belegten. Den umgekehrten Weg ist der Buddha gegangen. Er hat zunächst in dem Großen Syllogismus ("Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, kann nicht mein Ich sein.Nun seh ich alles Erkennbare an mir und um mich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen. Also ist nichts Erkennbares mein Ich.") Klarheit darüber geschaffen, daß unser eigenes Wesenhaftes jenseits der gesamten Erscheinungswelt und damit jenseits aller Erkenntnis überhaupt liegt.
Dann hat er sich, in Verwirklichung dieser Erkenntnis, von dieser gesamten allein erkennbaren Erscheinungswelt, insbesondere auch seiner gesamten Persönlichkeit, innerlich losgelöst. Damit tat sich dann natürlich auch vor seinem geistigen Auge, diesem aber in ganzer Reinheit, frei von jedem positiven Element, insbesondere auch dem der Geistigkeit und Einheit, jener Abgrund auf, den die Mystiker geschaut haben: „Es gibt, ihr Mönche, jenen Bereich, wo weder Erde noch Wasser ist, weder Feuer noch Luft, weder unendliches Raumgebiet noch unendliches Bewußtseinsgebiet, weder diese Welt noch eine andere Welt, nicht beides: Mond und Sonne. Das nenne ich, ihr Mönche, weder Kommen, noch Gehen, noch Vergehen, noch Entstehen. Ohne Stützpunkt, ohne Basis ist das. Eben dies ist das Ende des Leidens" — „Es gibt, ihr Mönche, ein Nicht-Geborenes, Nicht-Gewordenes, Nicht-Geschaffenes, Nicht-Entstandenes. Wenn es, ihr Mönche, dieses Nicht-Geborene, Nicht-Gewordene, Nicht - Geschaffene, Nicht - Entstandene nicht gäbe, dann wäre hier ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Entstandenen
nicht zu erkennen."
Dieser Bereich des Unentstandenen ist natürlich auch nach dem Buddha der Bereich des Wesenhaften. Zunächst verbirgt sich in ihm unser eigenes Wesenhaftes. Denn er tut sich ja eben dadurch auf, daß wir uns aus der Erscheinungswelt als dem uns Nicht-Wesenhaften auf unser eigentliches Wesenhaftes zurückziehen. Damit schließt er dann aber zugleich das Weltwesenhafte überhaupt in sich. Denn der Große Syllogismus, nach dem nichts von der Erscheinungswelt das Wesenhafte ist, gilt von allem in dieser. Nur wer auf dem Wege des Großen Syllogismus, im Gegensatz zu dem Nichtwesenhaften der Erscheinungswelt, diesen Bereich des Wesenhaften erkannt hat, kann natürlich zu diesem letzteren gelangen: „Diejenigen, die das Wesenhafte (sāra) in dem Nicht-Wesenhaften (asāra) vermeinen und das Nicht-Wesenhafte im Wesenhaften sehen — [also diejenigen, die jenseits der Erscheinungswelt das absolute Nichts gähnen sehen] — die gelangen nicht zum Wesenhaften — [nämlich dem in den eben zitierten Stellen genannten Bereich des Unentstandenen] — Diejenigen aber, die das Wesenhafte und das Nichtwesenhafte kennen: die gelangen zum Wesenhaften" (Dhammapada V.11) — ,,Nicht in den Beilegungen kommt man zum Wesenhaften: na so upadhisu saram eti."(Suttanipāta V. 364)
Wie hat nun der Buddha den Bereich des Weltwesenhaften benannt ? Der Buddha war sich wie kein Zweiter bewußt, daß alle unsere Begriffe immanent sind, d. h. nur innerhalb der Erscheinungswelt Geltung, ja, überhaupt bloß Sinn haben, und daß sie eben deshalb nie von transzendentem Gebrauche sein dürfen. Nun ist jener Bereich des Weltwesenhaften schlechthin transzendent. Es kann von ihm schlechterdings nichts weiter als seine bloße Tatsächlichkeit dadurch festgestellt werden, daß wir von dem Untergange der gesamten Erscheinungswelt in unserem Kernhaften in keiner Weise berührt werden. Damit steht fest, daß kein positiver Begriff für jenen Bereich mehr Geltung hat. Nicht einmal der Begriff des Absoluten trifft völlig zu. Zwar ist er der noch am meisten entsprechende Begriff mit positivem Einschlag, indem er eben das von allen Bezeichnungen, Bedingungen, Einschränkungen Losgelöste, also das Unbedingte, ausdrückt. Aber immerhin verleitet auch er dazu, dieses Unbedingte wenigstens noch als eine Einheit aufzufassen und daraus falsche Konsequenzen, gleich den obigen, abzuleiten. Vollkommen adäquat wäre vielmehr, weil das Weltwesenhafte für unsere Erkenntnis, für die, wie schon einmal gesagt, die Erscheinungswelt das allein Positive ist, als ein durchaus Negatives erscheint, auch nur ein durchaus negativer Begriff, wenn natürlich auch dieser wieder aus der Erscheinungswelt genommen sein muß. Ein solcher negativer Begriff kann aber allein aus jenen Vorgängen geschöpft werden, in denen sich eben ein Rückzug aus der Erscheinungswelt auf das Wesenhafte vollzieht. Nun ist der am meisten in die Augen springende Vorgang dieser Art das ausgehende Feuer: Auch dem Feuer liegt, wie wir gesehen haben, ein Unerkennbares zugrunde, aus dem heraus, infolge eines Dranges darnach, das Ergreifen der Bedingungen für seine Offenbarung erfolgt, mit der Folge, daß an dem ergriffenen Brennmaterial das sichtbare Feuer emporlodert. Ist dann das Brennmaterial verzehrt, so erlischt das Feuer, d. h. das Unergründliche, seiner „Beilegung" ledig, tritt wieder in seinen unerkennbaren Urzustand zurück. Das hat selbst unser christlicher Mystiker Meister Eckhart erkannt, wie aus seinen Worten hervorgeht: „Da, wo das Feuer in seiner wahren Natur ist, da brennt und versehrt es nicht. Nur die Hitze, die aus dem Feuer ausströmt, die brennt hienieden. Doch wo die Hitze noch in der Feuernatur beschlossen ist, da brennt sie nicht und ist unschädlich. Und doch steht sie auch da, wo sie noch in dem Feuer beschlossen ist, der wahren Natur des Feuers so fern, wie der Himmel der Erde". Vor allem aber ist diese Erkenntnis bereits vor dem Auftreten des Buddha den Upanishaden eigen: „Brahman — [das ist eben das jenseits der Erscheinungswelt liegende Weltwesenhafte] — ist seiner Natur nach reines Denken, vergleichbar dem Feuer, nachdem es den Brennstoff verzehrt hat". So ist es denn nur natürlich, daß auch der Buddha die Rückkehr des vollkommen — [von jedem Drang nach der Erscheinungswelt] — Erlösten in das Welt wesenhafte mit jenem Ausdrucke benannte, mit dem diese Rückkehr beim Feuer bezeichnet wird: der vollkommen Erlöste macht es wie das Feuer: ,,Er geht fort wie das Feuer (aggi va gacchati)"(Dhammapada v.31) — er erlischt. ,,Die Weisen erlöschen wie diese Lampe (nibbanti dhira yatha 'yam padipo"32)(Suttanipata v.235).
Daß man sich dabei zu des Buddha Zeiten noch allgemein bewußt war, daß dieses Erlöschen nichts mit Vernichtung zu tun hat, wie das unserer seichten Naturauffassung scheinen will, sondern daß es eben nur ein Abwerfen der brennenden, uns unaufhörlich beunruhigenden Beilegung unserer Persönlichkeit bedeute, zeigen auch die ändern Ausdrücke, mit denen von den buddhistischen Heiligen dieses schon bei ihren Lebzeiten eingetretene Erlöschen häufig in Parallele gesetzt wird: ,,Friedvoll bin ich, erloschen (nibbuto) bin ich, ein nicht mehr Ergreifender bin ich"33). — „Ich bin losgelöst, friedvoll, erloschen"34). „Ich b*fi kühl geworden, erloschen"(Majj II, p.237). Ja, in Majjhima Nikaya I, p. 446 wird sogar von einem Pferde, das durch Bändigung seinen wilden Drang verloren hat, wiederholt gesagt, es sei vollkommen erloschen (parinib-buto).
Darnach ist es aber nur eine selbstverständliche Konsequenz, wenn der Buddha auch den Bereich des Wesenhaften selbst als das Nibbana-Prinzip (nibbana-dhatu) oder, kurz, als das Nibbana bezeichnet, als den Bereich des Erloschenseins, den Bereich, in welchem alles Erkennbare erloschen ist.
Diese Bedeutung von Nibbana für das Weltwesenhafte kommt direkt in den Stellen zum Ausdruck: „Nibbana ist das höchste Wesenhafte (Paramatthasaro nibbanam)" und: „Welches sind die ungewordenen Dinge? Nibbana: dieses ist die ungewordenen Dinge" — [d. h. die Dinge, soweit sie nicht geworden sind, also eben ihr Wesenhaftes] (Katame dhammä asankhata? Nibbanam, ime dhamma asankhata)".
In dieses „von allen Beilegungen freie Nibbana-Prinzip erlischt ein Vollendeter hinein" (Tathagato anupadisesaya nibbanadhatuya parinibbayati).
Wer fühlte nicht ohne weiteres, daß der Buddha, indem er sich so ausdrückte, in der Tat das Weltwesenhafte und den Rückzug auf dasselbe in der vollkommensten Weise in die Sprache übergeführt hat ? Insbesondere wird der Leser zugeben, daß mit der Bezeichnung unseres Rückzugs aus der Erscheinungswelt in das unerkennbare Wesenhafte als eines Erlöschens in gar keiner Weise Raum für Schlüsse über den Zustand eines solchen „vollkommen Erloschenen" gegeben ist, weder zu der Annahme, daß er mit dem Weltwesenhaften zur Einheit verfließe, noch daß er in diesem seine Individualität behalte. Deshalb sagt der Buddha auch anderweit, die gestorbenen Vollendeten seien „in das Todlose untergetaucht", so, wie ein in den Ozean geworfener Stein, von dem man auch nicht sagen kann, ob er sich in ihm auflöst oder seine Individualität behält, oder was sonst aus ihm werden mag. Man kann also insbesondere auch nicht sagen, der Nibbana-Bereich sei unser Ich. Dieses ist als solches vielmehr auch dort nicht ausfindig zu machen und behält mithin seine absolute Unerkennbarkeit auch insoweit.
Noch ist ein letzter Punkt zu klären: Im Nibbana-Bereich herrscht „ewige Stille", „der Große Friede" und damit „unerschütterliche Seligkeit", wenigstens für den, für den die Worte gelten: „Wer im Frieden Seligkeit erkennt, der Weisung Gotamos vergessen wird er nie." Nun könnte der Leser auf den Gedanken kommen: „Ja, wie kann da Friede herrschen, wenn Nibbana doch das Weltwesenhafte ist? Dieses ist doch auch nach dem Buddha in seinen „Beilegungen" in das Welttreiben verstrickt und damit in all die Unrast und Leidensfülle desselben?" Die Lösung dieses Bedenkens bringen schon die Mystiker. Bereits der Vedanta unterscheidet das „offenbare" und das „unoffenbare" Brahman. Im er-steren Sinne ist das Brahman das die Welt hervorbringende und gestaltende Prinzip, im letzteren aber das Urwesen, „frei von Gutem und Bösem, frei von Geschehen und Nichtgeschehen, frei von Vergangenen und Zukünftigem", in welches alles wieder zurückkehren kann. Dementsprechend heißt es auch: „Das Reich, das höchste, das verborgen, — drei Viertel davon liegen im Geheimen — ein Viertel ist's, wovon die Menschen reden." — In das geheime unoffenbare Brahman geht der Erlöste wieder heim: „Diesem Welttreiben werde ich nur so lange angehören, bis ich erlöst sein werde; darauf werde ich heimgehen."
In gleicher Weise unterscheidet auch Meister Eckhart bei seiner Gottheit „zwischen dem Wesen und seiner Verwirklichung": „Das Wesen bezeichnet die Gottheit im engeren Sinne und ist das Erste, was wir an Gott auffassen. Demgemäß ist sie selber wandellose Einigkeit und verschwebende Stille und doch zugleich ein Quellborn der Besonderung" — „Gott, wie er an sich ist, hat Wesen, und das Wesen wohnt in unerschlossener Stille, darum ist es ein Unbewegliches: es spricht sich nicht, es liebt nicht, es erzeugt nicht, und doch bewegt es das Bewegliche." Als in der Gottheit gründend nimmt natürlich auch die Seele, das Ich, an beiden Zuständen teil und zieht sich schließlich aus der „Besonderung", dem „Beweglichen" wieder zurück in „die verschwebende Stille der in sich wesenden Gottheit, die frei und ledig ist aller Tätigkeit." „In dieser Einheit des göttlichen Wesens hat nie der Vater von einem Sohn, noch der Sohn von einem Vater gewußt; denn da gibt es weder Vater noch Sohn noch Heiligen Geist" — „Ei, ei, edle Seele, erprob' es doch mit dieser Herrlichkeit! Freilich solang daß du dich nicht selber ertränkst in diesem grundlosen Meer der Gottheit, so kannst du ihn nicht kennen lernen, diesen göttlichen Tod".
Etwas anders ist die Darstellungsweise des Buddha. Er spricht von dem Weltwesenhaften in seiner Aktivität als solchem, also in dem Sinne, wie der Vedanta von seinem weltschaffenden Brahman und Meister Eckhart von der „Verwirklichung des Wesens" seiner Gottheit reden, überhaupt nicht, weil diese insoweit, indem sie ein einziges, in sich einiges, geistiges Urwesen, das tätig werde, annehmen, ja bloß phantasieren. Er spricht vielmehr von der allein erkennbaren Tatsache, daß auf jeden Fall die ganze Erscheinungswelt oder Weltausbreitung (der Papañca) nicht unser eigentliches Wesenhaftes ist, daß sie vielmehr erst infolge eines Anhaftens von uns für uns entsteht. Dagegen hat auch der Buddha, weil erkennbar, festgestellt, daß diejenigen Wesen, die dieses Anhaften an der Erscheinungswelt lassen, sich also nichts mehr „beilegen" und sich so auf das Wesenhafte zurückziehen, auch nicht mehr von der Unrast der Erscheinungswelt berührt werden und eben dadurch in die „ewige Stille", den „Großen Frieden" übertreten. Das mag durch folgendes Gleichnis deutlich werden: Unsere Wohnräume werden so ziemlich unaufhörlich von Vorträgen, Konzerten, Theateraufführungen in Form von elektrischen Schwingungen der verschiedenen Radiosender durchwogt, und doch stören sie unsere Ruhe in gar keiner Weise, ja, sie existieren für uns überhaupt nicht. Erst wenn wir in unserer Wohnung ein Empfangsgerät aufstellen, eine Antenne spannen und dann den Hörer an unser Ohr legen, wird diese ganze Welt von Tönen, die uns umflutet, für uns offenbar. Andererseits verschwindet sie wieder restlos für uns in dem Augenblicke, in dem wir den Hörer weglegen. In ähnlicher Weise vermitteln uns die Sinnenorgane unseres körperlichen Organismus als eines Erkenntnis-Apparates die ganze Erscheinungswelt. Wer also diesen Erkenntnisapparat für immer ablegt, der hat sich auch für immer dem Einflüsse der Erscheinungswelt entzogen und genießt, trotzdem diese fortbesteht, auf ewig den höchsten Frieden. In der Tat ist ja auch der Tod eines Vollendeten nichts weiter als das Abwerfen der „Beilegung" seines Erkenntnisapparates für immer. Er hat genug an der Tragikomödie des Lebens und will deshalb hinfürder nicht mehr an ihr teilhaben, weder als Mitspieler noch auch nur als Zuschauer, und so legt er denn „diesen Körper", durch den allein er ja an dem tollen Spiel teilnehmen konnte, „besonnen, klar bewußt ab" und — geht nach Hause."

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