Mittwoch, 26. März 2008

Georg Grimm - Selbstlosigkeit II

Gewiß ist Selbstlosigkeit auch der Kern der Buddhamoral. Aber die Frage ist eben, wie diese Selbstlosigkeit zu verstehen sei, ob sie insbesondere im Sinne des „Los vom Ich", also in dem Sinne zu nehmen sei, daß das Ziel aller echten Moral in der Vernichtung des Selbstes, des Ichs als einer bloßen Einbildung bestehe. Da hier diese Frage ausschließlich des­halb bejaht wird, weil dies schon der Wortsinn von „selbstlos" sei, indem dieser Wortsinn dahin präzisiert wird, ein selbst­loser Mensch sei ein Mensch, der kein Selbst, kein Ich mehr habe, so muß natürlich auf die Quelle zurückgegangen werden, die allen Worten ihren Sinn gibt, ja, die Worte selber schärft.
Jede Sprache ist doch wohl von dem Volk gebildet worden, in dem sie entstanden ist, ist also doch wohl auch aus den allgemeinen Grundanschauungen dieses Volkes herausgewachsen und bringt eben deshalb im Ganzen und in allen ihren einzelnen Worten nur diese Grundanschauungen zum Ausdruck. Jedes Wort muß also doch wohl auch in dem Sinne genommen werden, wie es die Allgemeinheit versteht und von jeher ver­standen hat, so gewiß, als es eben diese Allgemeinheit ist, für die das einzelne Wort ein Zeichen, eine Marke für einen bestimmten Gedankenwert darstellen soll.
Nun kommt das Wort „Selbst" in zweifacher Form vor, einmal als reflexives Pronominal-Adjektiv und dann in der Form eines Substantivums: „Das Selbst".
In der Form als Pronominal-Adjektiv kann es nie für sich allein stehen, sondern hat nur die Bestimmung, zu betonen, dass das Subjekt, beziehungsweise Objekt, auf das es sich bezieht, in seinem eigentlichen, engeren Sinne handle, beziehungsweise leide: „Der König ist selbst gekommen — er hat nicht bloß eine Willensäußerung von sich übermittelt, ich habe es für mich selber getan — nicht etwa nur für meine Angehörigen; er hat das Haus selbst in Brand gesteckt — nicht etwa nur den Anbau."
Weil so die Person oder die Sache durch das Wort „selbst, selber" nur scharf pointiert, in ihrem eigentlichen Bestände und in scharfer Abgrenzung von allem, streng genommen, nicht zu ihm Gehörigen, hervorgehoben wird, deshalb wird na­türlich durch die Unterlassung oder Aufhebung dieser Pointierung in der Unterdrückung des Wortes „selbst, selber" nicht auch die Person oder Sache aufgehoben, auf die es sich bezieht. Es fällt vielmehr eben nur die Pointierung, fällt nur die scharfe Betonung des eigentlich Wesenhaften der Person oder Sache weg: „Der König ist gekommen — ich habe es für mich getan — er hat das Haus in Brand gesteckt."
In der zweiten, substantivischen Form, also als „das Selbst", bezeichnet das Wort dann dieses eigentlich Wesenhafte einer Person, das in der adjektivischen Form nur scharf als solches betont, nur scharf als solches hervorgekehrt werden soll, selber, wird also dann gleichbedeutend mit dem, was man sonst „das Wesen, das Wesentliche" nennt. Hie adjektivische und die substantivische Form haben also einen durchaus verschiedenen Sinn.
Eben deshalb kann aber auch die etymologische Bedeutung des Wortes „selbstlos", um die es sich für uns ja bloß han­delt, nur festgestellt werden, wenn zuvor festgestellt ist, auf welche der beiden Formen des Wortes „Selbst" das Wort „selbstlos" zurückzuführen ist, ob auf die adjektivische „selbst, 'selber", oder die substantivische „das Selbst". Da gilt es denn selbst wieder festzustellen, welches die ursprüngliche Form ist. Eine Meinungsverschiedenheit hierüber kann wohl nicht bestehen. Die Frage entscheidet sich schon ganz allein dadurch, daß die adjektivische Form die regelmäßige, ja, in den allerweitesten Volkskreisen die allein bekannte und ge­brauchte ist. Der Normalmensch kennt die Wortbildung „das Selbst" nicht und hat sie auch in der Vergangenheit nicht ge­kannt. Sie wird sich wohl nur hie und da in Werken reiner Reflexion finden, womit allein schon feststeht, daß diese sub­stantivische Form „das Selbst" eben auch nur eine Fortbildung der originären adjektivischen Form „selbst, selber" ist, eben als Produkt der Reflexion. Das wird noch sicherer, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die adjektivische Form „selbst, selber" nicht nur von Personen, sondern auch von Sachen gebraucht wird, im Gegensatz zur substantivischen Form „das Selbst", die nur auf Personen anwendbar ist — kein Mensch wird sagen „Das Selbst eines Hauses". Die Sachlage ist mithin die, daß sich aus der ursprünglichen, allgemeinen adjektivischen Form für einen begrenzten Bereich die substantivische Form entwickelt hat.
Damit ist nun aber die Frage entschieden, auf welche Form das Wort „selbstlos" zurückzuführen ist, natürlich auf die ursprüngliche adjektivische Form. Hiernach bringt aber dieses Wort „selbstlos" das Gegenteil von dem zum Ausdruck, was man durch das Wort „selbst, selber" bezeichnet: das, was im Wort „selbst" gedacht wird, wird durch die Charakterisierung als „selbstlos" ausdrücklich als aufgehoben erklärt. Nun be­zweckt das Wort „selbst, selber", wie bereits ausgeführt, die Betonung, die Pointieruug des Subjekts bzw. Objekts in seinem eigentlichen Bestände. Durch das Wort „selbstlos" wird also auch nur diese Betonung, diese Pointieruug des Subjekts bezw. Objekts in seinem eigentlichen Bestände als unangemessen abgelehnt. „Er ist ein selbstloser Mensch" heißt also: Dieser Mensch betont nie, daß er es ist, der handelt, leidet, er betont sich selbst überhaupt nie und in keiner Lage, er stellt sich selbst nie in den Vordergrund; ja, er nimmt schlechter­dings keine Rücksicht auf sich selbst und will auch nichtj daß andere auf ihn Rücksicht nehmen. Nur den Ausschluß dieser Betonung des eigenen Ich bis zum Gegenteil, nämlich bis zur Vernachlässigung, ja, bis zur völligen Ignorierung des eigenen Ich macht also das Wort „selbstlos" in seiner ety­mologischen Bedeutung offenbar.
Das steht ja auch im vollkommenen Einklang mit dem, was man im praktischen Leben allgemein unter „selbstlos" versteht, indem so eben immer ein Mensch charakterisiert wird, der ohne jede Rücksicht auf sich selber handelt. Wie selbstverständlich diese Bedeutung von „selbstlos" ist, kann man beispielsweise schon ersehen, wenn man in dem Hand­wörterbuch der englischen und deutschen Sprache von Dr. Friedrich Koehler das Wort „selfless" aufschlägt, indem dieses Wort übersetzt ist mit „ohne Rücksicht auf sich selbst", während „selflessness" wiedergegeben wird mit „Rücksichts­losigkeit gegen sich selbst".
Zu diesem gemeinhin mit dem Worte „selbstlos" verbun­denen Sinn stünde es im unvereinbaren Gegensatz, wenn man es trotz alles Bisherigen auf das Substantivum „das Selbst" zurückführen wollte. Denn dann würde es etymologisch ja bedeuten: ohne ein Selbst. „Selbstlos" hätte also, da „das Selbst" ja den Kern, das Wesen eines Menschen zu bezeichnen bestimmt ist, den Sinn von „wesenlos'. Wer aber möchte behaupten, daß irgendeiner, wenn er jemanden als einen selbstlosen Menschen charakterisiert, ihn damit zu einem wesenlosen Menschen machen will? Was ja übrigens auch ein Widerspruch in sich wäre, indem doch alles Existierende ein Wesen haben muß, nämlich eben das, worin es im Grunde besteht. Daß „selbstlos" auf die ursprüngliche Adjektivform „selbst, selber" zurückgeht und deshalb auch etymologisch nur den bisher festgestellten Sinn haben kann, wird endlich auch noch durch folgendes klar. Das Wort „selbstlos" ist nicht einfach das Gegenteil von „selbst, selber". Der Begriff „selbst" ist vielmehr weiter, als der von „selbstlos". Man kann sagen: „Das Haus selbst", aber man kann nicht sagen „ein selbst­loses Haus", man kann nicht einmal sagen: „ein selbstloser Säugling". Speziell das letztere Beispiel macht deutlich, daß der Begriff „selbstlos" nur für den Bereich des verantwort­lichen, also moralischen, Handelns gilt. Nun entsteht aber, wenn eine Sprache, um einen bestimmten Gedanken zu fixieren, ein eigenes Wort bildet, im gleichen Zeitpunkt das Bedürfnis, auch den gegenteiligen Gedanken mit einem Wort zu kennzeichnen, schon um die beiden einander gegenüber­stehenden Gedankeninhalte mit einander vergleichen zu können. Es ist deshalb ein untrügliches Mittel zur Feststellung des In­halts eines bestimmten Begriffs, den ihm konträr gegenüber­stehenden Begriff zu analysieren, sofern wenigstens dieser ein­wandfrei feststeht. Nun ist das genau entsprechende, konträre Gegenteil von „selbstlos" doch wohl „selbstsüchtig". Unter einem selbstsüchtigen Menschen hat man aber sicherlich nie einen Menschen verstanden, der sein Selbst, also das, worin er im Grunde eigentlich besteht, erst sucht — eine innere Unmöglichkeit — sondern immer einen Menschen, der etwas für sich selbst sucht. Danach bestimmt sich aber der Inhalt des gegenteiligen Begriffs „selbstlos" eben auch unter diesem Gesichtspunkt wieder dahin, daß ein solcher nichts mehr für sich selber sucht, und ist die Ableitung dieses Wortes vom Substantivum „Das Selbst" und die darauf gestützte Betrach­tung, ein selbstloser Mensch sei ein Mensch, der sein Selbst verloren habe, also ein Mensch ohne ein Selbst, schon sprach­lich geradezu unmöglich. Hat denn auch schon irgend einmal ein Volk oder auch nur ein Volksgenosse, soweit er als sprachbildender Faktor mit in Betracht kommt, das Wort ,selbstlos" in diesem Sinne verstanden? Würde nicht vielmehr jeder verwundert entgegenhalten: „Ja, ich selbst handle doch auch noch, wenn ,ich' ,selbstlos' handle."
So ist also das „einfache" Denken, das schon durch den Wortsinn von „selbstlos" das Selbst, das Ich totschlagen zu können glaubt, in Wahrheit ein sehr plumpes Denken und der auf dieses Denken gegründete Schlachtruf „Los vom Ich" schon an sich ein innerer Widersinn: Ich soll von mir los!! Ist das nicht in der Tat ein ebenso Unmögliches und damit bis zur Unfaßlichkeit Törichtes, als wenn der Weltenraum sich selbst als Ziel vorsetzen wollte: „Los vom Weltenraum"? Loskommen kann man doch immer nur von einem Fremden, loskommen kann ich doch auch immer nur von dem, was in Wahrheit nicht-ich, nicht mein Ich ist!

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