Samstag, 29. März 2008

Georg Grimm - "Das Wesentliche"

"Wie aber hat dann der Buddha das Weltwesenhafte bezeichnet ? Oder hat er sich überhaupt nicht mit ihm befaßt ? Wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt, haben die Mystiker, die so heißen, nicht etwa, weil der von ihnen gegangene Weg ein mystischer, d. h. nicht weiter mitteilbarer wäre, sondern die so heißen, weil sie zu dem Ur-Mysterium, das ist eben dem Weltmysterium, vorgedrungen sein wollen, zuerst geschaut und dann das geschaute Wunderding in ihrer Reflexion als den Bannkreis des Weltwesenhaften erkannt, das sie dann mit den ihnen geläufigen Namen „Brahman", „Gott", „Gottheit" belegten. Den umgekehrten Weg ist der Buddha gegangen. Er hat zunächst in dem Großen Syllogismus ("Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, kann nicht mein Ich sein.Nun seh ich alles Erkennbare an mir und um mich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen. Also ist nichts Erkennbares mein Ich.") Klarheit darüber geschaffen, daß unser eigenes Wesenhaftes jenseits der gesamten Erscheinungswelt und damit jenseits aller Erkenntnis überhaupt liegt.
Dann hat er sich, in Verwirklichung dieser Erkenntnis, von dieser gesamten allein erkennbaren Erscheinungswelt, insbesondere auch seiner gesamten Persönlichkeit, innerlich losgelöst. Damit tat sich dann natürlich auch vor seinem geistigen Auge, diesem aber in ganzer Reinheit, frei von jedem positiven Element, insbesondere auch dem der Geistigkeit und Einheit, jener Abgrund auf, den die Mystiker geschaut haben: „Es gibt, ihr Mönche, jenen Bereich, wo weder Erde noch Wasser ist, weder Feuer noch Luft, weder unendliches Raumgebiet noch unendliches Bewußtseinsgebiet, weder diese Welt noch eine andere Welt, nicht beides: Mond und Sonne. Das nenne ich, ihr Mönche, weder Kommen, noch Gehen, noch Vergehen, noch Entstehen. Ohne Stützpunkt, ohne Basis ist das. Eben dies ist das Ende des Leidens" — „Es gibt, ihr Mönche, ein Nicht-Geborenes, Nicht-Gewordenes, Nicht-Geschaffenes, Nicht-Entstandenes. Wenn es, ihr Mönche, dieses Nicht-Geborene, Nicht-Gewordene, Nicht - Geschaffene, Nicht - Entstandene nicht gäbe, dann wäre hier ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Entstandenen
nicht zu erkennen."
Dieser Bereich des Unentstandenen ist natürlich auch nach dem Buddha der Bereich des Wesenhaften. Zunächst verbirgt sich in ihm unser eigenes Wesenhaftes. Denn er tut sich ja eben dadurch auf, daß wir uns aus der Erscheinungswelt als dem uns Nicht-Wesenhaften auf unser eigentliches Wesenhaftes zurückziehen. Damit schließt er dann aber zugleich das Weltwesenhafte überhaupt in sich. Denn der Große Syllogismus, nach dem nichts von der Erscheinungswelt das Wesenhafte ist, gilt von allem in dieser. Nur wer auf dem Wege des Großen Syllogismus, im Gegensatz zu dem Nichtwesenhaften der Erscheinungswelt, diesen Bereich des Wesenhaften erkannt hat, kann natürlich zu diesem letzteren gelangen: „Diejenigen, die das Wesenhafte (sāra) in dem Nicht-Wesenhaften (asāra) vermeinen und das Nicht-Wesenhafte im Wesenhaften sehen — [also diejenigen, die jenseits der Erscheinungswelt das absolute Nichts gähnen sehen] — die gelangen nicht zum Wesenhaften — [nämlich dem in den eben zitierten Stellen genannten Bereich des Unentstandenen] — Diejenigen aber, die das Wesenhafte und das Nichtwesenhafte kennen: die gelangen zum Wesenhaften" (Dhammapada V.11) — ,,Nicht in den Beilegungen kommt man zum Wesenhaften: na so upadhisu saram eti."(Suttanipāta V. 364)
Wie hat nun der Buddha den Bereich des Weltwesenhaften benannt ? Der Buddha war sich wie kein Zweiter bewußt, daß alle unsere Begriffe immanent sind, d. h. nur innerhalb der Erscheinungswelt Geltung, ja, überhaupt bloß Sinn haben, und daß sie eben deshalb nie von transzendentem Gebrauche sein dürfen. Nun ist jener Bereich des Weltwesenhaften schlechthin transzendent. Es kann von ihm schlechterdings nichts weiter als seine bloße Tatsächlichkeit dadurch festgestellt werden, daß wir von dem Untergange der gesamten Erscheinungswelt in unserem Kernhaften in keiner Weise berührt werden. Damit steht fest, daß kein positiver Begriff für jenen Bereich mehr Geltung hat. Nicht einmal der Begriff des Absoluten trifft völlig zu. Zwar ist er der noch am meisten entsprechende Begriff mit positivem Einschlag, indem er eben das von allen Bezeichnungen, Bedingungen, Einschränkungen Losgelöste, also das Unbedingte, ausdrückt. Aber immerhin verleitet auch er dazu, dieses Unbedingte wenigstens noch als eine Einheit aufzufassen und daraus falsche Konsequenzen, gleich den obigen, abzuleiten. Vollkommen adäquat wäre vielmehr, weil das Weltwesenhafte für unsere Erkenntnis, für die, wie schon einmal gesagt, die Erscheinungswelt das allein Positive ist, als ein durchaus Negatives erscheint, auch nur ein durchaus negativer Begriff, wenn natürlich auch dieser wieder aus der Erscheinungswelt genommen sein muß. Ein solcher negativer Begriff kann aber allein aus jenen Vorgängen geschöpft werden, in denen sich eben ein Rückzug aus der Erscheinungswelt auf das Wesenhafte vollzieht. Nun ist der am meisten in die Augen springende Vorgang dieser Art das ausgehende Feuer: Auch dem Feuer liegt, wie wir gesehen haben, ein Unerkennbares zugrunde, aus dem heraus, infolge eines Dranges darnach, das Ergreifen der Bedingungen für seine Offenbarung erfolgt, mit der Folge, daß an dem ergriffenen Brennmaterial das sichtbare Feuer emporlodert. Ist dann das Brennmaterial verzehrt, so erlischt das Feuer, d. h. das Unergründliche, seiner „Beilegung" ledig, tritt wieder in seinen unerkennbaren Urzustand zurück. Das hat selbst unser christlicher Mystiker Meister Eckhart erkannt, wie aus seinen Worten hervorgeht: „Da, wo das Feuer in seiner wahren Natur ist, da brennt und versehrt es nicht. Nur die Hitze, die aus dem Feuer ausströmt, die brennt hienieden. Doch wo die Hitze noch in der Feuernatur beschlossen ist, da brennt sie nicht und ist unschädlich. Und doch steht sie auch da, wo sie noch in dem Feuer beschlossen ist, der wahren Natur des Feuers so fern, wie der Himmel der Erde". Vor allem aber ist diese Erkenntnis bereits vor dem Auftreten des Buddha den Upanishaden eigen: „Brahman — [das ist eben das jenseits der Erscheinungswelt liegende Weltwesenhafte] — ist seiner Natur nach reines Denken, vergleichbar dem Feuer, nachdem es den Brennstoff verzehrt hat". So ist es denn nur natürlich, daß auch der Buddha die Rückkehr des vollkommen — [von jedem Drang nach der Erscheinungswelt] — Erlösten in das Welt wesenhafte mit jenem Ausdrucke benannte, mit dem diese Rückkehr beim Feuer bezeichnet wird: der vollkommen Erlöste macht es wie das Feuer: ,,Er geht fort wie das Feuer (aggi va gacchati)"(Dhammapada v.31) — er erlischt. ,,Die Weisen erlöschen wie diese Lampe (nibbanti dhira yatha 'yam padipo"32)(Suttanipata v.235).
Daß man sich dabei zu des Buddha Zeiten noch allgemein bewußt war, daß dieses Erlöschen nichts mit Vernichtung zu tun hat, wie das unserer seichten Naturauffassung scheinen will, sondern daß es eben nur ein Abwerfen der brennenden, uns unaufhörlich beunruhigenden Beilegung unserer Persönlichkeit bedeute, zeigen auch die ändern Ausdrücke, mit denen von den buddhistischen Heiligen dieses schon bei ihren Lebzeiten eingetretene Erlöschen häufig in Parallele gesetzt wird: ,,Friedvoll bin ich, erloschen (nibbuto) bin ich, ein nicht mehr Ergreifender bin ich"33). — „Ich bin losgelöst, friedvoll, erloschen"34). „Ich b*fi kühl geworden, erloschen"(Majj II, p.237). Ja, in Majjhima Nikaya I, p. 446 wird sogar von einem Pferde, das durch Bändigung seinen wilden Drang verloren hat, wiederholt gesagt, es sei vollkommen erloschen (parinib-buto).
Darnach ist es aber nur eine selbstverständliche Konsequenz, wenn der Buddha auch den Bereich des Wesenhaften selbst als das Nibbana-Prinzip (nibbana-dhatu) oder, kurz, als das Nibbana bezeichnet, als den Bereich des Erloschenseins, den Bereich, in welchem alles Erkennbare erloschen ist.
Diese Bedeutung von Nibbana für das Weltwesenhafte kommt direkt in den Stellen zum Ausdruck: „Nibbana ist das höchste Wesenhafte (Paramatthasaro nibbanam)" und: „Welches sind die ungewordenen Dinge? Nibbana: dieses ist die ungewordenen Dinge" — [d. h. die Dinge, soweit sie nicht geworden sind, also eben ihr Wesenhaftes] (Katame dhammä asankhata? Nibbanam, ime dhamma asankhata)".
In dieses „von allen Beilegungen freie Nibbana-Prinzip erlischt ein Vollendeter hinein" (Tathagato anupadisesaya nibbanadhatuya parinibbayati).
Wer fühlte nicht ohne weiteres, daß der Buddha, indem er sich so ausdrückte, in der Tat das Weltwesenhafte und den Rückzug auf dasselbe in der vollkommensten Weise in die Sprache übergeführt hat ? Insbesondere wird der Leser zugeben, daß mit der Bezeichnung unseres Rückzugs aus der Erscheinungswelt in das unerkennbare Wesenhafte als eines Erlöschens in gar keiner Weise Raum für Schlüsse über den Zustand eines solchen „vollkommen Erloschenen" gegeben ist, weder zu der Annahme, daß er mit dem Weltwesenhaften zur Einheit verfließe, noch daß er in diesem seine Individualität behalte. Deshalb sagt der Buddha auch anderweit, die gestorbenen Vollendeten seien „in das Todlose untergetaucht", so, wie ein in den Ozean geworfener Stein, von dem man auch nicht sagen kann, ob er sich in ihm auflöst oder seine Individualität behält, oder was sonst aus ihm werden mag. Man kann also insbesondere auch nicht sagen, der Nibbana-Bereich sei unser Ich. Dieses ist als solches vielmehr auch dort nicht ausfindig zu machen und behält mithin seine absolute Unerkennbarkeit auch insoweit.
Noch ist ein letzter Punkt zu klären: Im Nibbana-Bereich herrscht „ewige Stille", „der Große Friede" und damit „unerschütterliche Seligkeit", wenigstens für den, für den die Worte gelten: „Wer im Frieden Seligkeit erkennt, der Weisung Gotamos vergessen wird er nie." Nun könnte der Leser auf den Gedanken kommen: „Ja, wie kann da Friede herrschen, wenn Nibbana doch das Weltwesenhafte ist? Dieses ist doch auch nach dem Buddha in seinen „Beilegungen" in das Welttreiben verstrickt und damit in all die Unrast und Leidensfülle desselben?" Die Lösung dieses Bedenkens bringen schon die Mystiker. Bereits der Vedanta unterscheidet das „offenbare" und das „unoffenbare" Brahman. Im er-steren Sinne ist das Brahman das die Welt hervorbringende und gestaltende Prinzip, im letzteren aber das Urwesen, „frei von Gutem und Bösem, frei von Geschehen und Nichtgeschehen, frei von Vergangenen und Zukünftigem", in welches alles wieder zurückkehren kann. Dementsprechend heißt es auch: „Das Reich, das höchste, das verborgen, — drei Viertel davon liegen im Geheimen — ein Viertel ist's, wovon die Menschen reden." — In das geheime unoffenbare Brahman geht der Erlöste wieder heim: „Diesem Welttreiben werde ich nur so lange angehören, bis ich erlöst sein werde; darauf werde ich heimgehen."
In gleicher Weise unterscheidet auch Meister Eckhart bei seiner Gottheit „zwischen dem Wesen und seiner Verwirklichung": „Das Wesen bezeichnet die Gottheit im engeren Sinne und ist das Erste, was wir an Gott auffassen. Demgemäß ist sie selber wandellose Einigkeit und verschwebende Stille und doch zugleich ein Quellborn der Besonderung" — „Gott, wie er an sich ist, hat Wesen, und das Wesen wohnt in unerschlossener Stille, darum ist es ein Unbewegliches: es spricht sich nicht, es liebt nicht, es erzeugt nicht, und doch bewegt es das Bewegliche." Als in der Gottheit gründend nimmt natürlich auch die Seele, das Ich, an beiden Zuständen teil und zieht sich schließlich aus der „Besonderung", dem „Beweglichen" wieder zurück in „die verschwebende Stille der in sich wesenden Gottheit, die frei und ledig ist aller Tätigkeit." „In dieser Einheit des göttlichen Wesens hat nie der Vater von einem Sohn, noch der Sohn von einem Vater gewußt; denn da gibt es weder Vater noch Sohn noch Heiligen Geist" — „Ei, ei, edle Seele, erprob' es doch mit dieser Herrlichkeit! Freilich solang daß du dich nicht selber ertränkst in diesem grundlosen Meer der Gottheit, so kannst du ihn nicht kennen lernen, diesen göttlichen Tod".
Etwas anders ist die Darstellungsweise des Buddha. Er spricht von dem Weltwesenhaften in seiner Aktivität als solchem, also in dem Sinne, wie der Vedanta von seinem weltschaffenden Brahman und Meister Eckhart von der „Verwirklichung des Wesens" seiner Gottheit reden, überhaupt nicht, weil diese insoweit, indem sie ein einziges, in sich einiges, geistiges Urwesen, das tätig werde, annehmen, ja bloß phantasieren. Er spricht vielmehr von der allein erkennbaren Tatsache, daß auf jeden Fall die ganze Erscheinungswelt oder Weltausbreitung (der Papañca) nicht unser eigentliches Wesenhaftes ist, daß sie vielmehr erst infolge eines Anhaftens von uns für uns entsteht. Dagegen hat auch der Buddha, weil erkennbar, festgestellt, daß diejenigen Wesen, die dieses Anhaften an der Erscheinungswelt lassen, sich also nichts mehr „beilegen" und sich so auf das Wesenhafte zurückziehen, auch nicht mehr von der Unrast der Erscheinungswelt berührt werden und eben dadurch in die „ewige Stille", den „Großen Frieden" übertreten. Das mag durch folgendes Gleichnis deutlich werden: Unsere Wohnräume werden so ziemlich unaufhörlich von Vorträgen, Konzerten, Theateraufführungen in Form von elektrischen Schwingungen der verschiedenen Radiosender durchwogt, und doch stören sie unsere Ruhe in gar keiner Weise, ja, sie existieren für uns überhaupt nicht. Erst wenn wir in unserer Wohnung ein Empfangsgerät aufstellen, eine Antenne spannen und dann den Hörer an unser Ohr legen, wird diese ganze Welt von Tönen, die uns umflutet, für uns offenbar. Andererseits verschwindet sie wieder restlos für uns in dem Augenblicke, in dem wir den Hörer weglegen. In ähnlicher Weise vermitteln uns die Sinnenorgane unseres körperlichen Organismus als eines Erkenntnis-Apparates die ganze Erscheinungswelt. Wer also diesen Erkenntnisapparat für immer ablegt, der hat sich auch für immer dem Einflüsse der Erscheinungswelt entzogen und genießt, trotzdem diese fortbesteht, auf ewig den höchsten Frieden. In der Tat ist ja auch der Tod eines Vollendeten nichts weiter als das Abwerfen der „Beilegung" seines Erkenntnisapparates für immer. Er hat genug an der Tragikomödie des Lebens und will deshalb hinfürder nicht mehr an ihr teilhaben, weder als Mitspieler noch auch nur als Zuschauer, und so legt er denn „diesen Körper", durch den allein er ja an dem tollen Spiel teilnehmen konnte, „besonnen, klar bewußt ab" und — geht nach Hause."

Mittwoch, 26. März 2008

Georg Grimm - Die Buddha-Syllogismen

"Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, kann nicht mein Ich sein.
Meinen Körper sehe ich in seinem vollen Umfange unaufhörlich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen.
Also ist der Körper nicht mein Ich."

"Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, kann nicht mein Ich sein.
Nun sehe ich nicht nur meinen Körper, sondern auch alles Geistige, alles Bewusstsein unaufhörlich entstehen und vergehen und infolge seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen.
Also ist weder der Körper noch der Geist mein Ich."

"Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, kann nicht mein Ich sein.
Nun seh ich alles Erkennbare an mir und um mich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen.
Also ist nichts Erkennbares mein Ich."

Georg Grimm - Selbstlosigkeit V

Was der Buddha von uns will, ist von einem Kinde zu verstehen: er will, daß wir selbstlos werden, und zwar selbstlos in dem Sinne, in dem dieses Wort seit jeher jeder unbefangene Normalmensch, auch ein Kind, versteht: wir sollen nichts mehr für uns selber begehren. Ebenso leicht zu verstehen ist der sollen: weil alles außer uns wegen seiner Vergänglichkeit leid­bringend für uns ist: „Was von ihm — [vom Ich, vom Atman] — verschieden ist, ist leidvoll", haben schon die Upanishad-Meister, — wie übrigens nach dem früher Ausgeführten auch Meister Eckehart — erkannt. Selbst unser Goethe hat einmal in dieser Richtung gedacht: „Was euch nicht angehört, müsset ihr meiden, Was euch das innre stört, dürft ihr nicht leiden". Also nicht in dem Anatta-Begriff als solchem liegt die Schwierigkeit. Diese liegt vielmehr in dem Umfang, den dieser Anatta-Begriff und damit der Begriff der Selbstlosigkeit in der Lehre des Buddha annimmt. Besagt er doch hier, daß schlechter­dings alles nur irgendwie Erkennbare, daß insbesondere unsere gesamte Persönlichkeit, also unser Körper, unsere Empfindungen, Wahrnehmungen, unser Denken, nichts mit unserem Wesen und damit mit unserem eigentlichen Ich zu tun haben, daß wir also auch allem Erkennbaren gegenüber, daß wir insbesondere unserer gesamten Persönlichkeit gegenüber selbstlos werden müssen. Daß das auch wirklich wahr ist — nicht daß es der Buddha lehrt — ist schwer einzusehen, und daran scheitern so viele Köpfe, wobei dann die Verbildeten von ihnen zur Ver­schleierung ihrer Unfähigkeit, die Wahrheit dieser Lehre des Buddha einzusehen, keinen Anstand nehmen, diese Lehre in ihr Gegenteil zu verkehren, um sie so wieder mit ihrer Fassungs­kraft und damit mit der des großen Haufens in Einklang zu bringen, der ja auch nicht daran zweifelt, daß der Mensch in den Elementen seiner Persönlichkeit bestehe. „So ist wohl das, Aggivessana, deine Meinung: ,Der Körper ist mein Ich, die Empfindung ist mein Ich, die Wahrnehmung ist mein Ich, die Gemütstätigkeiten sind mein Ich, das Erkennen ist mein Ich?" — „Gewiß, o Gotama, ich sage: ,Der Körper ist mein Ich, die Empfindung ist mein Ich, die Wahrnehmung ist mein Ich, die Gemütstätigkeiten sind mein Ich, das Erkennen ist mein Ich', und diese große Menge sagt es auch." (M. N., I, p. 230 (M. S., I, S. 365))
Der unbefangene Normalmensch aber wird auch der Schwierigkeit, die Wahrheit des an sich zweifellosen Sinnes der Buddhalehre einzusehen, mit der Zeit unschwer Herr werden, indem er immer und immer wieder den Großen Buddha-Syllogismus betrachtet: „Was vergänglich ist und mir mit dem Eintritt seiner Vergänglichkeit Leiden zuführt, das kann unmöglich mein Wesen und damit mein eigentliches Ich sein; ja, das kann mir nicht einmal angemessen sein." Je mehr er das einsieht, desto mehr wird er auch einsehen, daß es nur der ihn erfüllende Wille ist, der ihn an dieses Fremde ettet, es ihn insbesondere immer und immer wieder ergreifen läßt. Desto mehr und mehr wird er aber auch alles dieses ihm im Grunde Fremden, wird er seiner gesamten Persönlich­keit überdrüssig werden. Damit wird Reizfreiheit gegenüber allen Objekten der Erkenntnis eintreten: keines von diesen, nicht einmal der eigene Körper, vermag noch einen Wunsch in ihm auszulösen. In dein gleichen Maße als dies eintritt, wird dann aber auch „die Loslösung“ erfolgen. In dem Maße, als er sich so loslöst, wird er auch unmittelbar an sich er­fahren, daß er selbst dadurch in keiner Weise berührt, viel­mehr nur von einer „Bürde", einer ungeheueren Bürde frei wird. Und in dem gleichen Maße, als er so von dieser ungeheueren Bürde frei wird, wird er dann auch all das Glück, ja, die Seligkeit auskosten, die eben die Befreiung von einer ungeheueren Bürde mit sich bringt. Und so wird ein solcher Mensch die allerhöchste „Selbstlosigkeit''' in der allerhöchsten Entsagung verwirklichen, weil er den Kern der Buddhalehre begriffen hatte. Mehr als diesen Kern brauchte er nicht: alle die anderen tiefgründigen Probleme, die auch die Buddhalehre in sich birgt und die auch der Buddha selber in zum Teil schwer zu begreifenden Ausführungen für jene Geister behandelt hat, deren Erkenntnisdrang nur da­durch zum Erlöschen gebracht werden kann, existieren für ihn nicht. Glückselig der Mensch, der so schnurgerade auf das Ziel hinsteuern, der so einfach denken kann. Er wird kein Gelehrter, wird kein Professor werden, aber er wird ein Heiliger werden. Er wird aber auch als Kampfesruf nicht ertönen lassen: „Los vom Ich!", sondern: „Los vom Nicht-Ich!"

Georg Grimm - Selbstlosigkeit IV

Die bisherigen Ausführungen ergeben, daß der harmlose Normalmensch der Wahrheit oft sehr viel näher steht, als der sogenannte wissenschaftliche Kopf, daß er auf jeden Fall für die Unwahrheiten viel empfänglicher ist als dieser. Denn dessen Bildung ist sehr häufig eine Verbildung, ist sehr oft eine Entfernung von der Wahrheit, statt eine Annäherung an sie. Wer von zweien zu Hause bleibt, ist einem beliebigen Punkt immer näher als der andere, der sich aus dem Hause in die zum Punkt entgegengesetzte Richtung entfernt. Und so führt das Grübeln über Probleme sehr häufig statt zur Lösung hin weit von dieser weg, so weit weg, daß gar mancher sich nicht einmal mehr zu seinem Ausgangspunkt zurückfindet; geschweige daß er, an diesen zurückgelangt, in die seiner bis­herigen entgegengesetzte Denkrichtung vordringen könnte, in der allein die Lösung des Problems gefunden werden kann. Das gilt vor allem von dem Verständnis der Buddhalehre. Diese ist in ihrem Kern geradezu verblüffend einfach, so einfach, daß diesen Kern, schon zu des Buddha Zeiten, die einfachsten, ungebildetsten Menschen alsbald ohne weiteres begriffen: Angulimala, ein ehemaliger Räuber und vielfacher Mörder, Adhimutta, ein Räuberhauptmann mit einem Teil seiner Spieß­gesellen, (Theragatha, v. 70) Suppabuddha, „ein Aussätziger, ein armer, elender, unglücklicher Mensch" (Udana, V, 3. — 3), Sasabhanga, ein Röhrichtsammler,( Theragatha, v. 487) Nanda, ein Kuhhirt(Samyutta-Nik., Bd. IV, p. 179—181): sie alle durchdrangen den Kern der Buddhalehre in kürzester Frist bis auf den Grund und verwirk­lichten ihn auch. Dagegen wurde der Buddha gerade von den sogenannten „Gebildeten" seiner Zeit, hochgelehrten Brahmanen und berühmten und berüchtigten Disputierkünstlern auf alle Weise bekämpft, wie ja auch noch tausend Jahre nach seinem Tode der Brahrnane Carikara, den Deussen „den Stern Indiens" nennt, den Buddha einen „alten Schwätzer" nannte und wie auch Deussen selbst, gleich so vielen Wort­führern der Wissenschaft unserer Zeit — es sei nur an Houston Chamberlain erinnert — nur ein Lächeln, wenn nicht Verachtung für den Buddha übrig haben. Auch diese Herrschaften haben sich eben bereits am anderen Ufer des Ozeans, der das Reich des Buddha bespült, häuslich niedergelassen, und da ist es dann allzuweit, auch fiir einen an sich scharfen Geist, hinüber zu diesem Buddhareich. Jene einfachen Naturmenschen dagegen traten der höchsten Wahrheit mit der gleichen spannungsvollen Unbefangenheit gegenüber, wie ein vor dem Theatervorhang sitzendes Kind, im Gegensatz zu dem bereits auf eine bestimmte Kunstrichtung eingeschworenen Theaterkritiker dem Stück ent­gegenharrt.
Und so ist denn auch für den einfachen Mann und die einfache Frau unserer Zeit, wenn sie auch nicht das sind, was man „gebildet" heißt, der Kern der Buddhalehre sehr leicht zu fassen. Ja, es hat fast den Anschein, als ob, wie übrigens noch jedes Mal bei der Neugeburt der religiösen Idee, diese „ungebildeten", richtig, noch nicht verbildeten Menschen auch heute vor allem als Saatfeld der zu uns herübergedrungenen Buddhalehre in Betracht zu kommen haben, natürlich nur insofern, als nicht auch sie bereits ihre Unbefangenheit unwiderbringlich verloren haben, verloren haben durch jene andere Fessel, welche der blinde Glaube an das religiöse System in das man hineingeboren ist, um den Geist des Menschen schlingt. Auf jeden Fall sind auch diese „ungebildeten" Volkskreise dem Kern der Buddhalehre durchaus gewachsen, wohlgemerkt dem Kern. Auch die Buddhalehre hat nämlich ihre Abgründe, in die nur ganz scharfe Geister hinunterzusteigen sich unterfangen dürfen. Aber diese Abgründe werden dem Normalmenschen gar nicht sichtbar, und wenn man ihn eigens darauf aufmerksam macht, so interessieren sie ihn nicht. Diese Abgründe eröffnen sich vielmehr nur einem Geiste, dessen Erkenntnisdrang bereits über die Norm hinaus gesteigert ist, und nur zur Befriedigung und damit Ertötung dieses übernormalen Dranges müssen sie dann auch aufgehellt werden: „Es gibt Einflüsse, die wissend überwunden werden müssen." Wer den Drang nach Aufhellung der letzten Tiefen der Buddhalehre gar nicht in sich verspürt, der braucht sich natürlich um diese Aufhellung auch nicht zu bemühen. Jedes Erkenntnisstreben dient ja nur dazu, einen in uns hausenden Drang zu ertöten. Kurz: jeder Mensch braucht nur soviel zu wissen und damit nur soviel Wissen sich zu erwerben, als zur Ertötung des ihn erfüllenden Dranges notwendig ist. Dazu reicht aber gemeinhin der auch dem ungebildeten Geiste ohne weiteres verständliche Kern der Buddhalehre und reicht damit — nach dem Umfang, nicht nach der Größe gemessen •- geradezu staunenswert wenig Wissen aus. Darum heißt es auch in Majjhima-Nikaya 113:
„Und ferner noch, Mönche, weiß ein schlechter Mensch viel. Der gedenkt bei sich: ,Ich freilich weiß viel, diese anderen Mönche aber, die wissen nicht viel!' Weil er viel weiß, brüstet er sich und verachtet die andern. — Ein guter Mensch aber, Mönche, gedenkt bei sich: ,Nicht doch weil man viel weiß, kann man begehrliche Eigenschaften verlieren, kann man gehässige Eigenschaften verlieren, kann man eitle Eigen­schaften, verlieren. Wenn auch Einer nicht viel weiß und er wandelt der Lehre gemäß, wandelt auf dem geraden Wege, folgt der Lehre nach, so ist er darum zu ehren, so ist er darum zu preisen!'
Und ferner noch, Mönche, ist ein schlechter Mensch ein Künder der Ordenszucht. Der gedenkt bei sich: ,Ich bin freilich ein Künder der Ordenszucht. Diese anderen Mönche aber, die sind keine Künder der Ordenszucht.' Um seiner Kunde der Ordenszucht willen brüstet er sich und verachtet die ändern. — Ein guter Mensch, ihr Mönche, aber gedenkt bei sich: ,Nicht doch um der Kunde der Ordenszucht willen kann man begehr­liche Eigenschaften verlieren, kann man gehässige Eigenschaften verlieren, kann man eitle Eigenschaften verlieren. Wenn auch Einer kein Künder der Ordenszucht ist, und er wandelt der Lehre gemäß, wandelt auf dem geraden Wege, folgt der Lehre nach, so ist er darum zu ehren, so ist er darum zu preisen.'
Und ferner noch, Mönche, ist ein schlechter Mensch ein Sprecher der Lehre. Der gedenkt bei sich: ,Ich bin freilich ein Sprecher der Lehre, diese anderen Mönche aber, die sind keine Sprecher der Lehre.' Weil er über die Lehre spricht, brüstet er sich und verachtet die andern. — Ein guter Mensch aber, ihr Mönche, gedenkt bei sich: ,Nicht doch weil man über die Lehre spricht, kann man begehrliche Eigenschaften verlieren, kann man gehässige Eigenschaften verlieren, kann man eitle Eigenschaften verlieren. Wenn auch Einer kein Sprecher der Lehre ist, und er wandelt der Lehre gemäß, wan­delt auf dem geraden Wege, folgt der Lehre nach, so ist er darum zu ehren, so ist er darum zu preisen.'"
Welches ist nun aber der Kern der Lehre? Nichts anderes als „Selbstlosigkeit", ein Begriff für den natürlichen, wenn auch noch so „unge­bildeten", wenn auch noch so kindlichen Geist ohne weiteres verständlich ist, ja, der, was seinen Sinn anlangt, wohl eine der banalsten Selbstverständlichkeiten ist, die es überhaupt in der Welt gibt, ein Begriff, den nur ganz verbildete Köpfe nicht mehr zu verstehen fähig sind.
Ist das aber auch wahr, daß die Selbstlosigkeit, in dem natürlichen, oben festgestellten Sinn des Wortes genommen der Kern der Buddhalehre ist? Das ist so wahr, als dieser Kern der Anatta-Gedanke ist und die Bedeutung des Wortes genau auf dasselbe hinausläuft, wie die unseres Wortes „selbstlos."
Das Wort anatta setzt sich zusammen aus atta und der Vorsilbe a, bzw. vor Vokalen an. Dabei bedeutet diese Vor­silbe, daß der mit dem Worte, dem sie vorgesetzt ist, ge­kennzeichnete Begriff und damit die durch diesen Begriff ge­kennzeichnete Realität in einem konkreten Falle nicht vorliegt, ganz ebenso, wie unsere Nachsilbe „los" ausdrückt, daß die mit dem Wort, an das sie gehängt wird, gekennzeichnete Realität in einem konkreten Falle nicht anzutreffen ist. Im übrigen hat das Wort atta, bzw. atman, im alten Indien die gleiche Entwicklung durchgemacht, wie unser Wort „selbst." Seine ursprüngliche Bedeutung zwar ist nicht sicher auszumitteln, fest steht jedoch, daß es mit der Zeit zu einem bloßen Reflexiv-Pronomen, genau mit der gleichen Bedeutung, wie unser „selbst", „selber", geworden war, und fest steht weiter­hin, daß dieses Reflexiv-Pronomen mit der Zeit zur Dignität eines Hauptwortes — ,-,der Atman" — erhoben wurde, wieder­um unserem Worte „das Selbst" entsprechend. Dabei wurde dieses Nomen „der Atman" zu dem ausgesprochenen Zwecke gebildet, damit unser eigenes innerstes Wesen und weiterhin, in Konsequenz des anderen Grundgedankens der Upanishaden von der Wesensidentität alles Seienden, das innerste Wesen der Dinge überhaupt zu bezeichnen. Ja, der Begriff „der Atman" wurde geradezu der technische Kunstausdruck für dieses innerste Wesen. Man erinnere sich der Worte Paul Deussens: „Bei dieser Veranlagung des indischen Geistes, in die Tiefe zu dringen und durch alles Schalenartige hindurch den innersten Kern zu erfassen, wird es begreiflich, wie die indische Philosophie, um dasjenige auszudrücken, was sie sagen wollte, sich des aus dem gewöhnlichen Leben aufgenommenen) ja, schon zum Pronomen reflexivum verblauten Wortes atman bemächtigte, zuerst schüchtern und tastend, dann immer häufiger und zuversichtlicher; es wird begreiflich, wie in den Händen der indischen Denker alle jene anderen mythologi­schen, anthropologischen, rituellen Benennungen des höch­sten Wesens zur Schale wurden, durch welche hindurch, hier mehr, dort weniger deutlich, als innerster Kern der Ätman hindurchleuchtet, bis das Denken so weit erstarkt ist, im Atman den reinsten Ausdruck für das Prinzip der Dinge zu finden."
In den beiden Formen als einfaches Reflexiv-Pronomen, bzw. Pronominal-Adjektiv „selbst, selber", und als Substantivum „das Selbst" zur Bezeichnung unseres eigentlichen Wesens ge­braucht eben deshalb auch der Buddha, der sich ja, wo es nur immer anging, eng an den Sprachgebrauch seiner Zeit an­schloß, das Wort atta die Pali-Form von atman. Da er aber von unserem innersten Wesen als solchem, also eben vom Atman, den Grundlagen seiner Lehre gemäß, nicht in der positiven Form spricht, sondern es immer nur negativ bezeichnet, so kommt bei ihm das Substantivum „der Atta" auch nur in seiner negativen Form als an-atta vor. Auch dieses Wort anattä ist also, eben weil mit dem Substantivum attä zusmmengesetzt, ein Substantiv und bedeutet „Nicht der Atta, nicht unser Wesen." Halten wir diese Einsichten mit den obigen Ausführungen über unser Wort „selbstlos" zusammen, so ergibt sich Folgen­des: Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen liegt formell darin, daß unser Wort „selbstlos" ein Adjektiv, das Wort anatta aber ein Substantiv ist, sachlich aber besteht der Unterschied darin, daß der Begriff anatta von dem, worauf er angewendet wird, bekundet, daß dieses nicht unser Ich, nicht unser eigentliches Wesen ist, während unser Begriff „selbstlos" nur die völlige Rücksichtslosigkeit gegen dieses unser eigentliches Wesen zum Ausdruck bringt. Indessen liegen die beiden Begriffe, obgleich sie so verschiedenen In­halt haben, in der gleichen Richtung, ja, sie ergänzen sich gegenseitig. Indem nämlich etwas als anatta, also als nicht zu unserem eigentlichen Wesen gehörig erklärt wird, ist damit von selbst der Grund zum „selbstlosen" Handeln — nur mit Bezug auf das Handeln wird ja, wie oben dargelegt, der Ausdruck „selbstlos" gebraucht — gelegt. Der Begriff an­atta ist also gegenüber dem von „selbstlos" der umfassen­dere, begreift diesen letzteren in sich: ein Mensch, der alles als anatta, als nicht zu ihm gehörig, ja, als ihm unan­gemessen erkennt, wird von selbst auch im höchsten Sinne selbstlos werden.
Daß der Buddha das Wort anatta wirklich stets im dar­gelegten Sinn gebraucht, springt aus jedem seiner Anwendungs­fälle förmlich in die Augen: „Der Körper ist anatta, die Empfindung, die Wahrnehmung, die Gemütstätigkeiten, das Bewußtsein", „was da gesehen, gehört, erkannt, erforscht, im Geiste untersucht wird", kurz, „die ganze Welt ist anatta", nicht mein Selbst, nicht mein wahres Ich, nicht mein eigentliches Wesen.
Übrigens gibt der Buddha selber eine Legaldefmition dieses Begriffes anatta, die schlechterdings jeden Zweifel ausschließt: „Was vergänglich ist, ist leidbringend. Was leidbringend ist, ist anatta. Was anatta ist: das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“ Hiernach ist also das Wort anatta nur eine Marke, ein Stempel, ist nur ein Sigel — so wie es solche Sigel auch in der Stenographie gibt — für die Große Formel: „Das gehört mir nicht; das bin nicht ich; das ist nicht mein Selbst." Diese Große Formel ist der eigent­liche Zauberschlüssel, mit dem der Buddha die Pforte zum Reiche der Todlosigkeit geöffnet hat. Sie muß man mithin begreifen, um den Anatta-Gedanken des Buddha zu begreifen. Sie muß man verwirklichen, um die höchste Erlösung zu ver­wirklichen: „Da hat, Aggivessana, ein Mönch, was es auch an Körperlichem gibt, was es auch an Empfindung, was es auch an Wahrnehmung, was es auch an Gemütstätgkeiten, was es auch an Erkennen gibt, also erkannt: ,Das gehört mir nicht, das bin nicht ich, das ist nicht mein Selbst' und ist restlos erlöst. Insofern, Aggivessana, ist ein Mönch ein Heiliger, ein Einflußvernichter, Endiger, hat er getan, was zu tun war, die Last abgelegt, das Heil errungen, die Daseinsfesseln vernichtet, ist er in vollkommener Weisheit erlöst. Der also geisterlöste Mönch, Aggivessana, hat unvergleichliches Wissen und unver­gleichliche Erlösung erlangt."
Daß aber die Große Formel: „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst" schlechterdings ein­deutig ist, daß sie, wenn man sie nur überhaupt verstehen will, gar nicht mißverstanden werden kann, wird wohl kein Vernünftiger bestreiten. Übrigens stelle man sich nur einmal vor, es würde eine Abstimmung sämtlicher Menschen, die zurzeit auf dem weiten Erdenrund Gehirnsubstanz in ihrem Kopfe spazieren tragen, veranstaltet, also der „Edlen und der Gemeinen, der Scharfsinnigen und der Stumpfsinnigen, der Gutbegabten und der Schlechtbegabten, der Leichtbegreifenden und der Schwerbegreifenden", angefangen vom menschenfressenden Südseeinsulaner bis hinauf zum höchsten Genie, das zurzeit die Erdkruste beschwert. Die Abstimmung habe zum Zweck, eben zu ermitteln, in welchem Sinn jeder Einzelne die Worte auffaßt: „Das gehört mir nicht, das bin nicht ich, das ist nicht mein Selbst", ob in dem Sinne: „Das brauche ich nicht; auch wenn ich es nicht habe oder auch wenn ich es wieder verliere, so berührt das mich selber in meinem eigentlichen Wesen nicht", oder in dem Sinne, daß, wenn das, was mir nicht angehört, was ich nicht bin, sich auflöst, ich mich damit selber mit auflöse und so selber mit ver­nichtet werde. Ist es denkbar, daß auch nur einer der Ab­stimmenden die letztere Alternative bejahte und die erstere verneinte? Wenn aber alle, ausnahmslos alle die erste Alter­native bejahen und die zweite verneinen werden, ist es dann zu viel gesagt, wenn oben gesagt wurde, der Kern der Buddha­lehre sei von einer geradezu verblüffenden Einfachheit, in seiner Bedeutung auch von einem ganz kindlichen Geiste ohne weiteres einzusehen?
Darin liegt ja eben das spezifisch Buddhamäßige, daß ein vollkommener Buddha — zum Unterschied von einem Pacceka-buddha — die höchste Wahrheit in eine Form zu gießen ver­steht, daß sie auch ein Räuberhauptmann mit seinen Spieß­gesellen, daß sie auch ein Aussätziger, ein armer, elender, un­glücklicher Mensch, daß sie auch ein Röhrichtsammler, daß sie auch ein Kuhhirt, ja, daß sie sogar ein siebenjähriger Knabe — Baddha in den Theragatha, V. 479 — ihrem Sinne nach ohne weiteres vollkommen begreifen und auch alsbald verwirklichen können.
Weil der durch die Große Formel „Das gehört mir nicht, das bin nicht ich, das ist nicht mein Selbst" ausgedrückte Gedanke überhaupt gar nicht mehr klarer ausgedrückt werden kann, deshalb hat der Buddha die Große Formel selber auch ich allein wirken. Für ihn war eben ihre sprachliche Be­deutung selbstverständlich wie die Grundsätze der Mathematik
— beispielsweise der Grundsatz, daß zwischen zwei Punkten die gerade Linie die kürzeste ist —, die ja auch gar keiner weiteren Erklärung mehr fähig sind.
Nur illustriert hat der Buddha die Große Formel gelegent­lich, wie z.B. im folgenden Gleichnis: „Gleichwie, ihr Mönche, wenn ein Mann das, was an Gräsern und Reisig, an Zweiglein und Blättern in diesem Jeta-Waldhain daliegt, wegtrüge oder verbrennte oder sonst nach Belieben damit schaltete, würdet ihr da wohl denken: ,Uns trägt der Mann weg; oder ver­brennt er oder schaltet sonst nach Belieben'?" — „Wahrlich nicht, o Herr!" - „Aus welchem Grunde?" — „Nicht sind ja wahrlich, Herr, wir das, noch gehört es uns an." — „Ebenso­wenig nun auch, Mönche, gehört euch der Körper an: ihn gebet auf! Der von euch aufgegebene wird euch zum Heile, zum Glücke gereichen. Die Empfindung — die Wahrnehmung— die Gemütstätigkeiten — das Erkennen [das Denken] ge­hören euch nicht an: das gebet auf! Das von euch Auf­gegebene wird euch zum Heile, zum Glücke gereichen!" „Denn von dem, was man körperliche Form, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütstätigkeiten, Erkennen nennt, abgelöst, ist ein Vollendeter gar tief, unermeßlich, unergründlich wie der große Ozean."'
Wie weit muß sich ein Geist verirrt haben, bis zu welchem schier unglaublichen Grade muß er verbildet, um nicht zu sagen verwildert sein, wenn er trotz alledem, trotz des Wortsinns von „selbstlos", trotz der Großen Formel, trotz des an­geführten Gleichnisses und trotz der feierlichen Konstatierung von der Unermeßlichkeit eines von den fünf Haftensgruppen befreiten Vollendeten, und noch dazu in völlig unbelehrbarer Weise, behauptet und verbreitet, der Buddha lehre: „Ich habe nicht einen Körper, ich habe nicht Empfindungen, ich habe nicht Bewußtsein, sondern ich bin wesenhaft dieser Köper, ich bestehe wesenhaft in diesen Empfindungen, ich bin dieses Be­wußtsein", und wenn er demgemäß weiter behauptet und ver­breitet, der Buddha lehre, eben deshalb hätten wir in der definitiven Vernichtung dieses Körpers, dieser Empfindungen, dieses Bewußtseins uns selber zu vernichten — der Buddha, der sich zu allem Überfluß noch ausdrücklich gegen eine solche Insinuation in den furchtbar ernsten Worten verwahrt: „Ich behaupte: ,Schon bei Lebzeiten ist ein Vollendeter un­erfaßbar''. Und weil ich das behaupte, beschuldigen mich manche Asketen und Brahmanen falsch und zu Unrecht: ,Der Asket Gotama will mit allem aufräumen, er lehrt die Ver­nichtung, das Verschwinden, das Vergehen des vorhandenen Lebewesens. Was ich nicht rede, dessen bezichtigen mich jene lieben Asketen und Brahmanen grundloser, nichtiger Weise, falsch, mit Unrecht. Nur Eines, ihr Mönche, verkündige ich heute wie früher: das Leiden und seine Vernichtung."
Muß man nicht geradezu am guten Willen zweifeln, wenn man sieht, wie man trotz alledem mit einer Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht, den Buddha immer wieder in die Gesellschaft jener Leute einreihen will, die keine höhere Lust und kein höheres Streben kennen, als ihren Mitmenschen so gründlich wie nur möglich das Vertrauen in die Unzerstörbarkcit ihres Wesens zu vernichten? Den Buddha, der selber sich mit den Weisen und Guten solidarisch erklärte? „Wovon die Weisen sagen: ,Es ist', davon sage auch ich: ,Es ist'." — „Herr Gotama hat Gemeinschaft mit den Guten." Auf welcher Seite waren aber, seitdem es Menschen gibt, diese Weisen und Guten, war alles Edle überhaupt bloß zu finden: dort, wo man die Vernichtung des Menschen lehrte, oder dort, wo man tief im Innern als höchsten Schatz das Bewußtsein von der Unzerstörbarkeit seines Wesens trug und wo man sich dieses Bewußtsein trotz Tod und Teufel, und seien es auch Teufel in Menschengestalt gewesen, nimmer rauben ließ? In welchem Lager standen seit Anbeginn die Geistesheroen der Menschheit, die großen Religionsstifter und Philosophen und „Mystiker" und Heiligen, und standen alle jene Männer und Frauen, hohe und niedriggestellte, deren Leben gleichfalls in Entsagung und tätiger Nächstenliebe aufging: da, wo man die Unierstörbarkeit unseres Wesens lehrte und erlebte, oder da, wo man diese Unzerstörbarkeit bekämpfte und bewitzelte? Was von beiden hat seit Urbeginn bei den Anthropoiden und bei den Brahma's als Religion und als Irreligion gegolten: Die Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres Wesens oder die Lehre von seiner Zerstörbarkeit?
Wohin, auf welche Seite, zu welchen Menschen gehört dann aber auch der Buddha, er, „der alles Edlen Träger hieß"

Georg Grimm - Selbstlosigkeit III

Für den unbefangenen Normalmenschen sind die bisherigen Ausführungen selbstverständlich, so selbstverständlich, daß er sich sogar über die Papierverschwendung beklagen möchte, die in diesen teuren Zeiten mit derartigen Darlegungen ge­trieben wird. Wie ist es aber dann möglich, daß es gleich­wohl so gar manche gibt, die es durchaus wahr haben wollen, daß, wenn sie selbstlos handeln, dann nicht mehr sie selbst handeln, sondern — ja, lieber Leser, wer dann noch handeln soll, wenn sie selbst nicht mehr handeln, das weiß ich nicht; da mußt du sie schon selber fragen. Solcher innerer Wider­sinn wird möglich, wenn man nicht mehr unbefangen denkt, d. h., wenn man nicht mehr objektiv denkt, wenn man das Objekt seines Denkens, hier die Sprache, speziell das Wort „selbstlos", nicht mehr so nimmt, wie es an sich ist, sondern wie man es gern haben möchte, gern haben möchte zur Stütze verkehrter Ansichten, die man sich anderweit gebildet hat. Mensch zum wilden reißenden Tier, das alles auffrißt, was sich ihm in den Weg stellt, den Guten und den Bösen, den Freund und den Feind. Ja, der in das Garn, den Hag seiner Ansichten verstrickte Philosoph haust noch viel schlimmer als das wildeste reißende Tier: er vernichtet radikal alles, was nicht zu seinen Ansichten stimmen will; wenn es sein muß, diese ganze vor uns ausgebreitete Welt, wie es Kant in seiner transzendentalen Ästhetik getan hat. Ja, die ganz Kleinen dieser reißenden Philosophen vernichten sogar die Logik, d. h. also die Gesetze des Denkens, soweit sich diese Gesetze als ihren Hirngespinsten hinderlich erweisen, sägen also den Ast ab, auf dem sie selber sitzen, und bilden sich noch dazu nicht wenig auf diese „Logik-Unfähigkeit" als den adä­quaten Ausdruck der „Wirklichkeit" ein. Hier, im harmlosen Philosophen, zeigt sich also der Mensch in seiner ganzen Schrecklichkeit. Doch der Leser gerate ob dieser Schrecklich­keit nicht selber in Furcht und Schrecken! Mit der Schrecklich­keit dieser Philosophen ist es nämlich nicht allzuweit her. Ihr Vernichtungswerk ist nämlich gar kein wirkliches Vernichtungs­werk, es besteht nur in ihrer Einbildung — hier haben wir eine wirkliche Einbildung: die Welt steht heute noch 'trotz Kant so, wie wir sie sehen, und auch der eingefleischteste Kantianer wird seine Sätze von der Idealität des Raumes und der Zeit solange aus seinem Gehirn entlassen und in seiner Studierstube verwahren, als er selber im Kampfe mit der Welt, mitten in ihr stehend, ihre grause Realität jeden Augen­blick an sich erfährt. Und auch der „eingeschnellteste" A-logiker wird so logisch, als es ihm nur möglich ist, denken, wenn es gilt, sich einen preiswerten Anzug zu kaufen. Im übrigen aber sorgt schon die natürliche Vernunft der Anderen dafür, daß alles, was nicht von ihr verdaut werden kann, wieder ausgespien wird.
Welches ist dann aber der eigentliche Grund dafür, daß man sogar das harmlose Wort „selbstlos" mit einem zur ein­stimmigen Auffassung der ganzen übrigen Menschheit in direktem Gegensatz stehenden Inhalt anfüllen will? Es ist der folgende Syllogismus: Ein Substrat für den reinen Ich-Begriff — das intelligible Ich Kants — ist schlechterdings nicht zu erkennen. „Wir kennen nur die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken", die aber eben nur Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken, nicht aber ein „Ich" sind. Also gibt es überhaupt und schlechterdings kein eigentliches „Ich". Es muß also auch die Sprache, so­weit sie mit dieser Erkenntnis im Widerspruch steht, korrigiert werden: „ ,Es denkt', sollte man sagen, so, wie man sagt: ,es blitzt'." Nun vervollständige man diesen Syllogismus einmal, indem man ihm seinen stillschweigend postulierten Obersatz ausdrücklich voransetzt. Dann lautet er: Was nicht zu erkennen ist, ist auch schlechterdings nicht, ist in keinem Sinne, ist absolut nicht. Ein Substrat für den reinen Ich-Begriff ist nicht zu erkennen. Also gibt es eben ein solches Substrat auch schlechterdings nicht. Springt nicht in die Augen, daß hier der Obersatz eine kolossale petitio principii in sich schließt? Wer garantiert mir denn, daß die Begriffe „Erkennbar" und „Sein" einerseits und „Unerkennbar" und „Nichts" andererseits sich schlechthin und in jedem Sinn decken? Wer kann die Möglichkeit ausschließen, „daß unser Erkenntnisvermögen mit seinen materiellen Sinnenorganen schon als solches ungeeignet ist, die Grenzen des Möglichen, ins­besondere eines möglichen Immateriellen zu umspannen", auf welches unerkennbare Immaterielle, eben deshalb, natürlich auch keinerlei Wort und Begriff, auch nicht der der Substanz, mehr zuträfe?Wenn aber diese Möglichkeit schlechterdings nicht ausgeschlossen werden kann, wie windig steht es dann mit jenem Standpunkt, der vor dieser Möglichkeit einfach die Augen schließt!
Wie windig er ist, wird noch deutlicher, wenn man sich erinnert, daß ja schon die Analyse des Erkenntnisprozesses mit grausamer Unerbittlichkeit darauf hinführt, daß sogar schon das erkennende Subjekt selber nicht mehr erkannt zu werden vermag: „Nicht erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens", oder, mit anderen Worten, daß schon — ich selber, der ich ja doch eben dieses erkennende Subjekt bin, mir unbekannt bin, daß also tatsächlich das Substrat des reinen Ich-Begriffs jenseits des Erkennbaren liegt, eine Er­kenntnis, die der Buddha in seinem Anatta-Gedanken, der besagt, daß ich in nichts von dem, was ich vergehen sehe und was mir mit dem Eintritt dieser Vergänglichkeit Leid bringt, bestanden sein kann, zur strahlenden Klarheit er­hoben hat!
Kann es nach alledem eine größere petitio principii, eine größere unbewiesene Voraussetzung geben, als den Standpunkt, der da kurzweg dekretiert: Das erkennbare Positive allein, ja, bloß das mir erkennbare Positive ist das Wirkliche und damit zugleich das überhaupt Mögliche, und der auf eine solche „Wirklichkeitslehre" seine ganze „Weltanschauung" aufbaut? Gehört nicht auch jene schlechterdings und absolut zwingende Erkenntnis eines möglichen Immateriellen und gehört damit nicht auch dieses Immaterielle selbst als ein Mögliches schon für das normale Denken der Wirklichkeit an? Ist nicht auch die nüchterne Reflexion, die bei der Analyse des Erkenntnis­prozesses das Subjekt des Erkennens zwar als gegeben, aber im übrigen als nicht erreichbar feststellen muß, „wirklich"? Und ist damit nicht auch dieses im übrigen nicht erreichbare Subjekt des Erkennens selber als „wirklich" festgestellt? Ist es 'keine Tatsache der Wirklichkeit, wenn ich mich selber durch das unaufhörliche Vergehen alles Vergänglichen an mir unberührt finde, ja, wenn ich jeden Augenblick unmittelbar empfinde, daß mir dieses Vergehen des Vergänglichen sogar Leid verursacht, ein Leid, das ich auch nach dem Vergang noch weiter empfinde, und sei das, was untergegangen ist, auch mein eigenes — früheres — Denken gewesen? Was ist das aber dann für eine „Wirklichkeitslehre", die alle diese wirklichen Tatsachen, ja, diese Urtatsachen aller Wirklichkeit überhaupt einfach unberücksichtigt läßt, ja, sie absichtlich ignoriert? Wird so der Begriff „Wirklichkeit" nicht zum Prokrustes-Bett gemacht, indem man alles, was man nicht „wirklich" haben will, und sei das auch das Grundgerüst aller Wirklichkeit selber, einfach abhackt? Die „Wirklichkeit" ist eben etwas größer als das Gehirn gewisser Leute.
So ist es also ganz richtig, daß das Substrat für den reinen Ich-Begriff unerkennbar ist. Aber so richtig das ist, so ver­kehrt und aller „Wirklichkeit" ins Gesicht schlagend ist der aus der Unerkennbarkeit des Substrats des Ich-Begriffs gezogene Schluß, daß deshalb dieser Ich-Begriff überhaupt kein Substrat habe und damit selber in jedem Sinn zu einer reinen Illusion werde. Richtig ist nur, daß dem Ich-Begriff kein erkennbares Substrat zugrunde liegt, sondern daß dieses Substrat, nämlich eben — ich selber, mit der ganzen Urrealität, in der ich mich selber jeden Augenblick erfahre, im Unerkennbaren liegt, und richtig ist, daß es, eben deshalb, einen Ich-Begriff im positiven und damit im eigentlichen Sinne nicht gibt, sondern nur den Begriff des transzendenten Ich, d. h. einen Begriff, dessen Sub­strat nur und ausschließlich negativ bestimmt werden kann: alles Erkennbare ist nicht mein Ich, oder, was dasselbe ist: Es bleibt die Tatsächlichkeit — nicht mehr! — des Substrats des reinen Ich-Begriffs bestehen, ohne daß dieses Substrat doch irgendwie gefaßt werden könnte: „Einen also geisterlösten Mönch dann noch aufzuspüren, so daß sie sagen könnten: ,Dies ist das Substrat für das Erkennen eines Vollendeten' gelingt selbst den Göttern, eingeschlossen Indra, Brahma und Pajäpati nicht. Und warum nicht? Schon bei Lebzeiten ist ein Vollendeter unerfaßbar."
Man sieht, das unmittelbare Gefühl der Menschheit, d. h. die unmittelbar aus dem Wesen des Menschen geborene Er­kenntnis, hat auch hier wieder einmal das Richtige getroffen, wenn es zu allen Zeiten und in allen Sprachen die Sätze formte: „ ,Ich' habe einen Körper, ,ich' habe Empfindungen", nicht aber die Sätze: „Ich bin der Körper, ich bin Empfindung." Und es ist nicht an dem, als ob unsere modernen Geistes-„Riesen" diese Urerkenntnis der gesamten Menschheit über den Haufen zu werfen hätten, ein Unternehmen, dem gleich, als ob man der Erde das Urgestein, auf dem sie ruht, unten wegziehen wollte, sondern auch diese Zwerge werden sich mit der Urwahrheit abzufinden haben, daß eben doch das „Ich" der Urgrund von allem ist, so sehr Urgrund, daß bis zu ihm hinunter nie ein Strahl der Erkenntnis gedrungen ist, auch nicht der Erkenntnisstrahl eines Buddha. Freilich, in der Richtung dieser Urerkenntnis liegt auch der Urirrtum der Menschheit, den allein der Buddha berichtigen wollte und berichtigt hat, nämlich der Irrtum, der das Ich, seine Tat­sächlichkeit als solche nicht bezweifelnd, aus seinen Tiefen heraushebt und es in eine wesenhafte Beziehung zu den allein erkennbaren Elementen der Persönlichkeit bringt.

Georg Grimm - Selbstlosigkeit II

Gewiß ist Selbstlosigkeit auch der Kern der Buddhamoral. Aber die Frage ist eben, wie diese Selbstlosigkeit zu verstehen sei, ob sie insbesondere im Sinne des „Los vom Ich", also in dem Sinne zu nehmen sei, daß das Ziel aller echten Moral in der Vernichtung des Selbstes, des Ichs als einer bloßen Einbildung bestehe. Da hier diese Frage ausschließlich des­halb bejaht wird, weil dies schon der Wortsinn von „selbstlos" sei, indem dieser Wortsinn dahin präzisiert wird, ein selbst­loser Mensch sei ein Mensch, der kein Selbst, kein Ich mehr habe, so muß natürlich auf die Quelle zurückgegangen werden, die allen Worten ihren Sinn gibt, ja, die Worte selber schärft.
Jede Sprache ist doch wohl von dem Volk gebildet worden, in dem sie entstanden ist, ist also doch wohl auch aus den allgemeinen Grundanschauungen dieses Volkes herausgewachsen und bringt eben deshalb im Ganzen und in allen ihren einzelnen Worten nur diese Grundanschauungen zum Ausdruck. Jedes Wort muß also doch wohl auch in dem Sinne genommen werden, wie es die Allgemeinheit versteht und von jeher ver­standen hat, so gewiß, als es eben diese Allgemeinheit ist, für die das einzelne Wort ein Zeichen, eine Marke für einen bestimmten Gedankenwert darstellen soll.
Nun kommt das Wort „Selbst" in zweifacher Form vor, einmal als reflexives Pronominal-Adjektiv und dann in der Form eines Substantivums: „Das Selbst".
In der Form als Pronominal-Adjektiv kann es nie für sich allein stehen, sondern hat nur die Bestimmung, zu betonen, dass das Subjekt, beziehungsweise Objekt, auf das es sich bezieht, in seinem eigentlichen, engeren Sinne handle, beziehungsweise leide: „Der König ist selbst gekommen — er hat nicht bloß eine Willensäußerung von sich übermittelt, ich habe es für mich selber getan — nicht etwa nur für meine Angehörigen; er hat das Haus selbst in Brand gesteckt — nicht etwa nur den Anbau."
Weil so die Person oder die Sache durch das Wort „selbst, selber" nur scharf pointiert, in ihrem eigentlichen Bestände und in scharfer Abgrenzung von allem, streng genommen, nicht zu ihm Gehörigen, hervorgehoben wird, deshalb wird na­türlich durch die Unterlassung oder Aufhebung dieser Pointierung in der Unterdrückung des Wortes „selbst, selber" nicht auch die Person oder Sache aufgehoben, auf die es sich bezieht. Es fällt vielmehr eben nur die Pointierung, fällt nur die scharfe Betonung des eigentlich Wesenhaften der Person oder Sache weg: „Der König ist gekommen — ich habe es für mich getan — er hat das Haus in Brand gesteckt."
In der zweiten, substantivischen Form, also als „das Selbst", bezeichnet das Wort dann dieses eigentlich Wesenhafte einer Person, das in der adjektivischen Form nur scharf als solches betont, nur scharf als solches hervorgekehrt werden soll, selber, wird also dann gleichbedeutend mit dem, was man sonst „das Wesen, das Wesentliche" nennt. Hie adjektivische und die substantivische Form haben also einen durchaus verschiedenen Sinn.
Eben deshalb kann aber auch die etymologische Bedeutung des Wortes „selbstlos", um die es sich für uns ja bloß han­delt, nur festgestellt werden, wenn zuvor festgestellt ist, auf welche der beiden Formen des Wortes „Selbst" das Wort „selbstlos" zurückzuführen ist, ob auf die adjektivische „selbst, 'selber", oder die substantivische „das Selbst". Da gilt es denn selbst wieder festzustellen, welches die ursprüngliche Form ist. Eine Meinungsverschiedenheit hierüber kann wohl nicht bestehen. Die Frage entscheidet sich schon ganz allein dadurch, daß die adjektivische Form die regelmäßige, ja, in den allerweitesten Volkskreisen die allein bekannte und ge­brauchte ist. Der Normalmensch kennt die Wortbildung „das Selbst" nicht und hat sie auch in der Vergangenheit nicht ge­kannt. Sie wird sich wohl nur hie und da in Werken reiner Reflexion finden, womit allein schon feststeht, daß diese sub­stantivische Form „das Selbst" eben auch nur eine Fortbildung der originären adjektivischen Form „selbst, selber" ist, eben als Produkt der Reflexion. Das wird noch sicherer, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die adjektivische Form „selbst, selber" nicht nur von Personen, sondern auch von Sachen gebraucht wird, im Gegensatz zur substantivischen Form „das Selbst", die nur auf Personen anwendbar ist — kein Mensch wird sagen „Das Selbst eines Hauses". Die Sachlage ist mithin die, daß sich aus der ursprünglichen, allgemeinen adjektivischen Form für einen begrenzten Bereich die substantivische Form entwickelt hat.
Damit ist nun aber die Frage entschieden, auf welche Form das Wort „selbstlos" zurückzuführen ist, natürlich auf die ursprüngliche adjektivische Form. Hiernach bringt aber dieses Wort „selbstlos" das Gegenteil von dem zum Ausdruck, was man durch das Wort „selbst, selber" bezeichnet: das, was im Wort „selbst" gedacht wird, wird durch die Charakterisierung als „selbstlos" ausdrücklich als aufgehoben erklärt. Nun be­zweckt das Wort „selbst, selber", wie bereits ausgeführt, die Betonung, die Pointieruug des Subjekts bzw. Objekts in seinem eigentlichen Bestände. Durch das Wort „selbstlos" wird also auch nur diese Betonung, diese Pointieruug des Subjekts bezw. Objekts in seinem eigentlichen Bestände als unangemessen abgelehnt. „Er ist ein selbstloser Mensch" heißt also: Dieser Mensch betont nie, daß er es ist, der handelt, leidet, er betont sich selbst überhaupt nie und in keiner Lage, er stellt sich selbst nie in den Vordergrund; ja, er nimmt schlechter­dings keine Rücksicht auf sich selbst und will auch nichtj daß andere auf ihn Rücksicht nehmen. Nur den Ausschluß dieser Betonung des eigenen Ich bis zum Gegenteil, nämlich bis zur Vernachlässigung, ja, bis zur völligen Ignorierung des eigenen Ich macht also das Wort „selbstlos" in seiner ety­mologischen Bedeutung offenbar.
Das steht ja auch im vollkommenen Einklang mit dem, was man im praktischen Leben allgemein unter „selbstlos" versteht, indem so eben immer ein Mensch charakterisiert wird, der ohne jede Rücksicht auf sich selber handelt. Wie selbstverständlich diese Bedeutung von „selbstlos" ist, kann man beispielsweise schon ersehen, wenn man in dem Hand­wörterbuch der englischen und deutschen Sprache von Dr. Friedrich Koehler das Wort „selfless" aufschlägt, indem dieses Wort übersetzt ist mit „ohne Rücksicht auf sich selbst", während „selflessness" wiedergegeben wird mit „Rücksichts­losigkeit gegen sich selbst".
Zu diesem gemeinhin mit dem Worte „selbstlos" verbun­denen Sinn stünde es im unvereinbaren Gegensatz, wenn man es trotz alles Bisherigen auf das Substantivum „das Selbst" zurückführen wollte. Denn dann würde es etymologisch ja bedeuten: ohne ein Selbst. „Selbstlos" hätte also, da „das Selbst" ja den Kern, das Wesen eines Menschen zu bezeichnen bestimmt ist, den Sinn von „wesenlos'. Wer aber möchte behaupten, daß irgendeiner, wenn er jemanden als einen selbstlosen Menschen charakterisiert, ihn damit zu einem wesenlosen Menschen machen will? Was ja übrigens auch ein Widerspruch in sich wäre, indem doch alles Existierende ein Wesen haben muß, nämlich eben das, worin es im Grunde besteht. Daß „selbstlos" auf die ursprüngliche Adjektivform „selbst, selber" zurückgeht und deshalb auch etymologisch nur den bisher festgestellten Sinn haben kann, wird endlich auch noch durch folgendes klar. Das Wort „selbstlos" ist nicht einfach das Gegenteil von „selbst, selber". Der Begriff „selbst" ist vielmehr weiter, als der von „selbstlos". Man kann sagen: „Das Haus selbst", aber man kann nicht sagen „ein selbst­loses Haus", man kann nicht einmal sagen: „ein selbstloser Säugling". Speziell das letztere Beispiel macht deutlich, daß der Begriff „selbstlos" nur für den Bereich des verantwort­lichen, also moralischen, Handelns gilt. Nun entsteht aber, wenn eine Sprache, um einen bestimmten Gedanken zu fixieren, ein eigenes Wort bildet, im gleichen Zeitpunkt das Bedürfnis, auch den gegenteiligen Gedanken mit einem Wort zu kennzeichnen, schon um die beiden einander gegenüber­stehenden Gedankeninhalte mit einander vergleichen zu können. Es ist deshalb ein untrügliches Mittel zur Feststellung des In­halts eines bestimmten Begriffs, den ihm konträr gegenüber­stehenden Begriff zu analysieren, sofern wenigstens dieser ein­wandfrei feststeht. Nun ist das genau entsprechende, konträre Gegenteil von „selbstlos" doch wohl „selbstsüchtig". Unter einem selbstsüchtigen Menschen hat man aber sicherlich nie einen Menschen verstanden, der sein Selbst, also das, worin er im Grunde eigentlich besteht, erst sucht — eine innere Unmöglichkeit — sondern immer einen Menschen, der etwas für sich selbst sucht. Danach bestimmt sich aber der Inhalt des gegenteiligen Begriffs „selbstlos" eben auch unter diesem Gesichtspunkt wieder dahin, daß ein solcher nichts mehr für sich selber sucht, und ist die Ableitung dieses Wortes vom Substantivum „Das Selbst" und die darauf gestützte Betrach­tung, ein selbstloser Mensch sei ein Mensch, der sein Selbst verloren habe, also ein Mensch ohne ein Selbst, schon sprach­lich geradezu unmöglich. Hat denn auch schon irgend einmal ein Volk oder auch nur ein Volksgenosse, soweit er als sprachbildender Faktor mit in Betracht kommt, das Wort ,selbstlos" in diesem Sinne verstanden? Würde nicht vielmehr jeder verwundert entgegenhalten: „Ja, ich selbst handle doch auch noch, wenn ,ich' ,selbstlos' handle."
So ist also das „einfache" Denken, das schon durch den Wortsinn von „selbstlos" das Selbst, das Ich totschlagen zu können glaubt, in Wahrheit ein sehr plumpes Denken und der auf dieses Denken gegründete Schlachtruf „Los vom Ich" schon an sich ein innerer Widersinn: Ich soll von mir los!! Ist das nicht in der Tat ein ebenso Unmögliches und damit bis zur Unfaßlichkeit Törichtes, als wenn der Weltenraum sich selbst als Ziel vorsetzen wollte: „Los vom Weltenraum"? Loskommen kann man doch immer nur von einem Fremden, loskommen kann ich doch auch immer nur von dem, was in Wahrheit nicht-ich, nicht mein Ich ist!

Georg Grimm Selbstlosigkeit I

Was der Buddhalehre bisher bei uns den Zugang gerade zu den religiösen Kreisen versperrte, war vor allem auch der Umstand, daß sich ihrer der Materialismus bemächtigt hatte in dem Wahn, in ihr endlich seine Religion gefunden zu haben, mit der man die Religion, d. h. das, was man sonst seit jeher unter Religion versteht, nämlich das Bewußtsein von der Unzer­störbarkeit unseres Wesens, totschlagen zu können glaubte. Es ist nicht uninteressant, dem Gedankengang nachzuspüren, auf dem die Buddhalehre zu der zweifelhaften Ehre kam, eine Religion des Materialismus zu werden. Dieser Gedanken­gang ist überaus einfach, entsprechend der primitiven Denk­art des Materialismus überhaupt. Treffend hat ihn einmal so ein materialistischer „Buddhist" in die folgenden Worte gekleidet: „Das A und Ω der buddhistischen Lehre — darüber dürfte ein Zweifel wohl nicht bestehen — ist die Selbstlosig­keit, das „Los vom Ich". Ich für meine Person brauche zur Erklärung der Auffassung, daß das Ich im Heiligen gänzlich aufhört, spurlos, zu Nichts verlischt, überhaupt nichts weiter als dieses. Aber so einfach denkt man nicht leicht."

Hier wird also aus dem bloßen Wortsinn von „selbstlos", „ichlos", das Endziel der Buddhalehre mit ihrer ganzen Moral deduziert, indem man es für selbstverständlich hält, daß man selbstlos nur handeln könne, wenn es in Wahrheit überhaupt kein Selbst, kein Ich gebe, dieser Begriff vielmehr eine reine Einbildung sei, von der man eben loszukommen habe. Man geht also von der als selbstverständlich erachteten Voraus­setzung aus, daß schon der Wortsinn von „selbstlos", „ichlos" die Annahme eines Selbstes, eines Ich ausschließe. Ist das richtig? Oder wie verhält es sich damit?