Mittwoch, 26. März 2008

Georg Grimm - Selbstlosigkeit IV

Die bisherigen Ausführungen ergeben, daß der harmlose Normalmensch der Wahrheit oft sehr viel näher steht, als der sogenannte wissenschaftliche Kopf, daß er auf jeden Fall für die Unwahrheiten viel empfänglicher ist als dieser. Denn dessen Bildung ist sehr häufig eine Verbildung, ist sehr oft eine Entfernung von der Wahrheit, statt eine Annäherung an sie. Wer von zweien zu Hause bleibt, ist einem beliebigen Punkt immer näher als der andere, der sich aus dem Hause in die zum Punkt entgegengesetzte Richtung entfernt. Und so führt das Grübeln über Probleme sehr häufig statt zur Lösung hin weit von dieser weg, so weit weg, daß gar mancher sich nicht einmal mehr zu seinem Ausgangspunkt zurückfindet; geschweige daß er, an diesen zurückgelangt, in die seiner bis­herigen entgegengesetzte Denkrichtung vordringen könnte, in der allein die Lösung des Problems gefunden werden kann. Das gilt vor allem von dem Verständnis der Buddhalehre. Diese ist in ihrem Kern geradezu verblüffend einfach, so einfach, daß diesen Kern, schon zu des Buddha Zeiten, die einfachsten, ungebildetsten Menschen alsbald ohne weiteres begriffen: Angulimala, ein ehemaliger Räuber und vielfacher Mörder, Adhimutta, ein Räuberhauptmann mit einem Teil seiner Spieß­gesellen, (Theragatha, v. 70) Suppabuddha, „ein Aussätziger, ein armer, elender, unglücklicher Mensch" (Udana, V, 3. — 3), Sasabhanga, ein Röhrichtsammler,( Theragatha, v. 487) Nanda, ein Kuhhirt(Samyutta-Nik., Bd. IV, p. 179—181): sie alle durchdrangen den Kern der Buddhalehre in kürzester Frist bis auf den Grund und verwirk­lichten ihn auch. Dagegen wurde der Buddha gerade von den sogenannten „Gebildeten" seiner Zeit, hochgelehrten Brahmanen und berühmten und berüchtigten Disputierkünstlern auf alle Weise bekämpft, wie ja auch noch tausend Jahre nach seinem Tode der Brahrnane Carikara, den Deussen „den Stern Indiens" nennt, den Buddha einen „alten Schwätzer" nannte und wie auch Deussen selbst, gleich so vielen Wort­führern der Wissenschaft unserer Zeit — es sei nur an Houston Chamberlain erinnert — nur ein Lächeln, wenn nicht Verachtung für den Buddha übrig haben. Auch diese Herrschaften haben sich eben bereits am anderen Ufer des Ozeans, der das Reich des Buddha bespült, häuslich niedergelassen, und da ist es dann allzuweit, auch fiir einen an sich scharfen Geist, hinüber zu diesem Buddhareich. Jene einfachen Naturmenschen dagegen traten der höchsten Wahrheit mit der gleichen spannungsvollen Unbefangenheit gegenüber, wie ein vor dem Theatervorhang sitzendes Kind, im Gegensatz zu dem bereits auf eine bestimmte Kunstrichtung eingeschworenen Theaterkritiker dem Stück ent­gegenharrt.
Und so ist denn auch für den einfachen Mann und die einfache Frau unserer Zeit, wenn sie auch nicht das sind, was man „gebildet" heißt, der Kern der Buddhalehre sehr leicht zu fassen. Ja, es hat fast den Anschein, als ob, wie übrigens noch jedes Mal bei der Neugeburt der religiösen Idee, diese „ungebildeten", richtig, noch nicht verbildeten Menschen auch heute vor allem als Saatfeld der zu uns herübergedrungenen Buddhalehre in Betracht zu kommen haben, natürlich nur insofern, als nicht auch sie bereits ihre Unbefangenheit unwiderbringlich verloren haben, verloren haben durch jene andere Fessel, welche der blinde Glaube an das religiöse System in das man hineingeboren ist, um den Geist des Menschen schlingt. Auf jeden Fall sind auch diese „ungebildeten" Volkskreise dem Kern der Buddhalehre durchaus gewachsen, wohlgemerkt dem Kern. Auch die Buddhalehre hat nämlich ihre Abgründe, in die nur ganz scharfe Geister hinunterzusteigen sich unterfangen dürfen. Aber diese Abgründe werden dem Normalmenschen gar nicht sichtbar, und wenn man ihn eigens darauf aufmerksam macht, so interessieren sie ihn nicht. Diese Abgründe eröffnen sich vielmehr nur einem Geiste, dessen Erkenntnisdrang bereits über die Norm hinaus gesteigert ist, und nur zur Befriedigung und damit Ertötung dieses übernormalen Dranges müssen sie dann auch aufgehellt werden: „Es gibt Einflüsse, die wissend überwunden werden müssen." Wer den Drang nach Aufhellung der letzten Tiefen der Buddhalehre gar nicht in sich verspürt, der braucht sich natürlich um diese Aufhellung auch nicht zu bemühen. Jedes Erkenntnisstreben dient ja nur dazu, einen in uns hausenden Drang zu ertöten. Kurz: jeder Mensch braucht nur soviel zu wissen und damit nur soviel Wissen sich zu erwerben, als zur Ertötung des ihn erfüllenden Dranges notwendig ist. Dazu reicht aber gemeinhin der auch dem ungebildeten Geiste ohne weiteres verständliche Kern der Buddhalehre und reicht damit — nach dem Umfang, nicht nach der Größe gemessen •- geradezu staunenswert wenig Wissen aus. Darum heißt es auch in Majjhima-Nikaya 113:
„Und ferner noch, Mönche, weiß ein schlechter Mensch viel. Der gedenkt bei sich: ,Ich freilich weiß viel, diese anderen Mönche aber, die wissen nicht viel!' Weil er viel weiß, brüstet er sich und verachtet die andern. — Ein guter Mensch aber, Mönche, gedenkt bei sich: ,Nicht doch weil man viel weiß, kann man begehrliche Eigenschaften verlieren, kann man gehässige Eigenschaften verlieren, kann man eitle Eigen­schaften, verlieren. Wenn auch Einer nicht viel weiß und er wandelt der Lehre gemäß, wandelt auf dem geraden Wege, folgt der Lehre nach, so ist er darum zu ehren, so ist er darum zu preisen!'
Und ferner noch, Mönche, ist ein schlechter Mensch ein Künder der Ordenszucht. Der gedenkt bei sich: ,Ich bin freilich ein Künder der Ordenszucht. Diese anderen Mönche aber, die sind keine Künder der Ordenszucht.' Um seiner Kunde der Ordenszucht willen brüstet er sich und verachtet die ändern. — Ein guter Mensch, ihr Mönche, aber gedenkt bei sich: ,Nicht doch um der Kunde der Ordenszucht willen kann man begehr­liche Eigenschaften verlieren, kann man gehässige Eigenschaften verlieren, kann man eitle Eigenschaften verlieren. Wenn auch Einer kein Künder der Ordenszucht ist, und er wandelt der Lehre gemäß, wandelt auf dem geraden Wege, folgt der Lehre nach, so ist er darum zu ehren, so ist er darum zu preisen.'
Und ferner noch, Mönche, ist ein schlechter Mensch ein Sprecher der Lehre. Der gedenkt bei sich: ,Ich bin freilich ein Sprecher der Lehre, diese anderen Mönche aber, die sind keine Sprecher der Lehre.' Weil er über die Lehre spricht, brüstet er sich und verachtet die andern. — Ein guter Mensch aber, ihr Mönche, gedenkt bei sich: ,Nicht doch weil man über die Lehre spricht, kann man begehrliche Eigenschaften verlieren, kann man gehässige Eigenschaften verlieren, kann man eitle Eigenschaften verlieren. Wenn auch Einer kein Sprecher der Lehre ist, und er wandelt der Lehre gemäß, wan­delt auf dem geraden Wege, folgt der Lehre nach, so ist er darum zu ehren, so ist er darum zu preisen.'"
Welches ist nun aber der Kern der Lehre? Nichts anderes als „Selbstlosigkeit", ein Begriff für den natürlichen, wenn auch noch so „unge­bildeten", wenn auch noch so kindlichen Geist ohne weiteres verständlich ist, ja, der, was seinen Sinn anlangt, wohl eine der banalsten Selbstverständlichkeiten ist, die es überhaupt in der Welt gibt, ein Begriff, den nur ganz verbildete Köpfe nicht mehr zu verstehen fähig sind.
Ist das aber auch wahr, daß die Selbstlosigkeit, in dem natürlichen, oben festgestellten Sinn des Wortes genommen der Kern der Buddhalehre ist? Das ist so wahr, als dieser Kern der Anatta-Gedanke ist und die Bedeutung des Wortes genau auf dasselbe hinausläuft, wie die unseres Wortes „selbstlos."
Das Wort anatta setzt sich zusammen aus atta und der Vorsilbe a, bzw. vor Vokalen an. Dabei bedeutet diese Vor­silbe, daß der mit dem Worte, dem sie vorgesetzt ist, ge­kennzeichnete Begriff und damit die durch diesen Begriff ge­kennzeichnete Realität in einem konkreten Falle nicht vorliegt, ganz ebenso, wie unsere Nachsilbe „los" ausdrückt, daß die mit dem Wort, an das sie gehängt wird, gekennzeichnete Realität in einem konkreten Falle nicht anzutreffen ist. Im übrigen hat das Wort atta, bzw. atman, im alten Indien die gleiche Entwicklung durchgemacht, wie unser Wort „selbst." Seine ursprüngliche Bedeutung zwar ist nicht sicher auszumitteln, fest steht jedoch, daß es mit der Zeit zu einem bloßen Reflexiv-Pronomen, genau mit der gleichen Bedeutung, wie unser „selbst", „selber", geworden war, und fest steht weiter­hin, daß dieses Reflexiv-Pronomen mit der Zeit zur Dignität eines Hauptwortes — ,-,der Atman" — erhoben wurde, wieder­um unserem Worte „das Selbst" entsprechend. Dabei wurde dieses Nomen „der Atman" zu dem ausgesprochenen Zwecke gebildet, damit unser eigenes innerstes Wesen und weiterhin, in Konsequenz des anderen Grundgedankens der Upanishaden von der Wesensidentität alles Seienden, das innerste Wesen der Dinge überhaupt zu bezeichnen. Ja, der Begriff „der Atman" wurde geradezu der technische Kunstausdruck für dieses innerste Wesen. Man erinnere sich der Worte Paul Deussens: „Bei dieser Veranlagung des indischen Geistes, in die Tiefe zu dringen und durch alles Schalenartige hindurch den innersten Kern zu erfassen, wird es begreiflich, wie die indische Philosophie, um dasjenige auszudrücken, was sie sagen wollte, sich des aus dem gewöhnlichen Leben aufgenommenen) ja, schon zum Pronomen reflexivum verblauten Wortes atman bemächtigte, zuerst schüchtern und tastend, dann immer häufiger und zuversichtlicher; es wird begreiflich, wie in den Händen der indischen Denker alle jene anderen mythologi­schen, anthropologischen, rituellen Benennungen des höch­sten Wesens zur Schale wurden, durch welche hindurch, hier mehr, dort weniger deutlich, als innerster Kern der Ätman hindurchleuchtet, bis das Denken so weit erstarkt ist, im Atman den reinsten Ausdruck für das Prinzip der Dinge zu finden."
In den beiden Formen als einfaches Reflexiv-Pronomen, bzw. Pronominal-Adjektiv „selbst, selber", und als Substantivum „das Selbst" zur Bezeichnung unseres eigentlichen Wesens ge­braucht eben deshalb auch der Buddha, der sich ja, wo es nur immer anging, eng an den Sprachgebrauch seiner Zeit an­schloß, das Wort atta die Pali-Form von atman. Da er aber von unserem innersten Wesen als solchem, also eben vom Atman, den Grundlagen seiner Lehre gemäß, nicht in der positiven Form spricht, sondern es immer nur negativ bezeichnet, so kommt bei ihm das Substantivum „der Atta" auch nur in seiner negativen Form als an-atta vor. Auch dieses Wort anattä ist also, eben weil mit dem Substantivum attä zusmmengesetzt, ein Substantiv und bedeutet „Nicht der Atta, nicht unser Wesen." Halten wir diese Einsichten mit den obigen Ausführungen über unser Wort „selbstlos" zusammen, so ergibt sich Folgen­des: Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen liegt formell darin, daß unser Wort „selbstlos" ein Adjektiv, das Wort anatta aber ein Substantiv ist, sachlich aber besteht der Unterschied darin, daß der Begriff anatta von dem, worauf er angewendet wird, bekundet, daß dieses nicht unser Ich, nicht unser eigentliches Wesen ist, während unser Begriff „selbstlos" nur die völlige Rücksichtslosigkeit gegen dieses unser eigentliches Wesen zum Ausdruck bringt. Indessen liegen die beiden Begriffe, obgleich sie so verschiedenen In­halt haben, in der gleichen Richtung, ja, sie ergänzen sich gegenseitig. Indem nämlich etwas als anatta, also als nicht zu unserem eigentlichen Wesen gehörig erklärt wird, ist damit von selbst der Grund zum „selbstlosen" Handeln — nur mit Bezug auf das Handeln wird ja, wie oben dargelegt, der Ausdruck „selbstlos" gebraucht — gelegt. Der Begriff an­atta ist also gegenüber dem von „selbstlos" der umfassen­dere, begreift diesen letzteren in sich: ein Mensch, der alles als anatta, als nicht zu ihm gehörig, ja, als ihm unan­gemessen erkennt, wird von selbst auch im höchsten Sinne selbstlos werden.
Daß der Buddha das Wort anatta wirklich stets im dar­gelegten Sinn gebraucht, springt aus jedem seiner Anwendungs­fälle förmlich in die Augen: „Der Körper ist anatta, die Empfindung, die Wahrnehmung, die Gemütstätigkeiten, das Bewußtsein", „was da gesehen, gehört, erkannt, erforscht, im Geiste untersucht wird", kurz, „die ganze Welt ist anatta", nicht mein Selbst, nicht mein wahres Ich, nicht mein eigentliches Wesen.
Übrigens gibt der Buddha selber eine Legaldefmition dieses Begriffes anatta, die schlechterdings jeden Zweifel ausschließt: „Was vergänglich ist, ist leidbringend. Was leidbringend ist, ist anatta. Was anatta ist: das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“ Hiernach ist also das Wort anatta nur eine Marke, ein Stempel, ist nur ein Sigel — so wie es solche Sigel auch in der Stenographie gibt — für die Große Formel: „Das gehört mir nicht; das bin nicht ich; das ist nicht mein Selbst." Diese Große Formel ist der eigent­liche Zauberschlüssel, mit dem der Buddha die Pforte zum Reiche der Todlosigkeit geöffnet hat. Sie muß man mithin begreifen, um den Anatta-Gedanken des Buddha zu begreifen. Sie muß man verwirklichen, um die höchste Erlösung zu ver­wirklichen: „Da hat, Aggivessana, ein Mönch, was es auch an Körperlichem gibt, was es auch an Empfindung, was es auch an Wahrnehmung, was es auch an Gemütstätgkeiten, was es auch an Erkennen gibt, also erkannt: ,Das gehört mir nicht, das bin nicht ich, das ist nicht mein Selbst' und ist restlos erlöst. Insofern, Aggivessana, ist ein Mönch ein Heiliger, ein Einflußvernichter, Endiger, hat er getan, was zu tun war, die Last abgelegt, das Heil errungen, die Daseinsfesseln vernichtet, ist er in vollkommener Weisheit erlöst. Der also geisterlöste Mönch, Aggivessana, hat unvergleichliches Wissen und unver­gleichliche Erlösung erlangt."
Daß aber die Große Formel: „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst" schlechterdings ein­deutig ist, daß sie, wenn man sie nur überhaupt verstehen will, gar nicht mißverstanden werden kann, wird wohl kein Vernünftiger bestreiten. Übrigens stelle man sich nur einmal vor, es würde eine Abstimmung sämtlicher Menschen, die zurzeit auf dem weiten Erdenrund Gehirnsubstanz in ihrem Kopfe spazieren tragen, veranstaltet, also der „Edlen und der Gemeinen, der Scharfsinnigen und der Stumpfsinnigen, der Gutbegabten und der Schlechtbegabten, der Leichtbegreifenden und der Schwerbegreifenden", angefangen vom menschenfressenden Südseeinsulaner bis hinauf zum höchsten Genie, das zurzeit die Erdkruste beschwert. Die Abstimmung habe zum Zweck, eben zu ermitteln, in welchem Sinn jeder Einzelne die Worte auffaßt: „Das gehört mir nicht, das bin nicht ich, das ist nicht mein Selbst", ob in dem Sinne: „Das brauche ich nicht; auch wenn ich es nicht habe oder auch wenn ich es wieder verliere, so berührt das mich selber in meinem eigentlichen Wesen nicht", oder in dem Sinne, daß, wenn das, was mir nicht angehört, was ich nicht bin, sich auflöst, ich mich damit selber mit auflöse und so selber mit ver­nichtet werde. Ist es denkbar, daß auch nur einer der Ab­stimmenden die letztere Alternative bejahte und die erstere verneinte? Wenn aber alle, ausnahmslos alle die erste Alter­native bejahen und die zweite verneinen werden, ist es dann zu viel gesagt, wenn oben gesagt wurde, der Kern der Buddha­lehre sei von einer geradezu verblüffenden Einfachheit, in seiner Bedeutung auch von einem ganz kindlichen Geiste ohne weiteres einzusehen?
Darin liegt ja eben das spezifisch Buddhamäßige, daß ein vollkommener Buddha — zum Unterschied von einem Pacceka-buddha — die höchste Wahrheit in eine Form zu gießen ver­steht, daß sie auch ein Räuberhauptmann mit seinen Spieß­gesellen, daß sie auch ein Aussätziger, ein armer, elender, un­glücklicher Mensch, daß sie auch ein Röhrichtsammler, daß sie auch ein Kuhhirt, ja, daß sie sogar ein siebenjähriger Knabe — Baddha in den Theragatha, V. 479 — ihrem Sinne nach ohne weiteres vollkommen begreifen und auch alsbald verwirklichen können.
Weil der durch die Große Formel „Das gehört mir nicht, das bin nicht ich, das ist nicht mein Selbst" ausgedrückte Gedanke überhaupt gar nicht mehr klarer ausgedrückt werden kann, deshalb hat der Buddha die Große Formel selber auch ich allein wirken. Für ihn war eben ihre sprachliche Be­deutung selbstverständlich wie die Grundsätze der Mathematik
— beispielsweise der Grundsatz, daß zwischen zwei Punkten die gerade Linie die kürzeste ist —, die ja auch gar keiner weiteren Erklärung mehr fähig sind.
Nur illustriert hat der Buddha die Große Formel gelegent­lich, wie z.B. im folgenden Gleichnis: „Gleichwie, ihr Mönche, wenn ein Mann das, was an Gräsern und Reisig, an Zweiglein und Blättern in diesem Jeta-Waldhain daliegt, wegtrüge oder verbrennte oder sonst nach Belieben damit schaltete, würdet ihr da wohl denken: ,Uns trägt der Mann weg; oder ver­brennt er oder schaltet sonst nach Belieben'?" — „Wahrlich nicht, o Herr!" - „Aus welchem Grunde?" — „Nicht sind ja wahrlich, Herr, wir das, noch gehört es uns an." — „Ebenso­wenig nun auch, Mönche, gehört euch der Körper an: ihn gebet auf! Der von euch aufgegebene wird euch zum Heile, zum Glücke gereichen. Die Empfindung — die Wahrnehmung— die Gemütstätigkeiten — das Erkennen [das Denken] ge­hören euch nicht an: das gebet auf! Das von euch Auf­gegebene wird euch zum Heile, zum Glücke gereichen!" „Denn von dem, was man körperliche Form, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütstätigkeiten, Erkennen nennt, abgelöst, ist ein Vollendeter gar tief, unermeßlich, unergründlich wie der große Ozean."'
Wie weit muß sich ein Geist verirrt haben, bis zu welchem schier unglaublichen Grade muß er verbildet, um nicht zu sagen verwildert sein, wenn er trotz alledem, trotz des Wortsinns von „selbstlos", trotz der Großen Formel, trotz des an­geführten Gleichnisses und trotz der feierlichen Konstatierung von der Unermeßlichkeit eines von den fünf Haftensgruppen befreiten Vollendeten, und noch dazu in völlig unbelehrbarer Weise, behauptet und verbreitet, der Buddha lehre: „Ich habe nicht einen Körper, ich habe nicht Empfindungen, ich habe nicht Bewußtsein, sondern ich bin wesenhaft dieser Köper, ich bestehe wesenhaft in diesen Empfindungen, ich bin dieses Be­wußtsein", und wenn er demgemäß weiter behauptet und ver­breitet, der Buddha lehre, eben deshalb hätten wir in der definitiven Vernichtung dieses Körpers, dieser Empfindungen, dieses Bewußtseins uns selber zu vernichten — der Buddha, der sich zu allem Überfluß noch ausdrücklich gegen eine solche Insinuation in den furchtbar ernsten Worten verwahrt: „Ich behaupte: ,Schon bei Lebzeiten ist ein Vollendeter un­erfaßbar''. Und weil ich das behaupte, beschuldigen mich manche Asketen und Brahmanen falsch und zu Unrecht: ,Der Asket Gotama will mit allem aufräumen, er lehrt die Ver­nichtung, das Verschwinden, das Vergehen des vorhandenen Lebewesens. Was ich nicht rede, dessen bezichtigen mich jene lieben Asketen und Brahmanen grundloser, nichtiger Weise, falsch, mit Unrecht. Nur Eines, ihr Mönche, verkündige ich heute wie früher: das Leiden und seine Vernichtung."
Muß man nicht geradezu am guten Willen zweifeln, wenn man sieht, wie man trotz alledem mit einer Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht, den Buddha immer wieder in die Gesellschaft jener Leute einreihen will, die keine höhere Lust und kein höheres Streben kennen, als ihren Mitmenschen so gründlich wie nur möglich das Vertrauen in die Unzerstörbarkcit ihres Wesens zu vernichten? Den Buddha, der selber sich mit den Weisen und Guten solidarisch erklärte? „Wovon die Weisen sagen: ,Es ist', davon sage auch ich: ,Es ist'." — „Herr Gotama hat Gemeinschaft mit den Guten." Auf welcher Seite waren aber, seitdem es Menschen gibt, diese Weisen und Guten, war alles Edle überhaupt bloß zu finden: dort, wo man die Vernichtung des Menschen lehrte, oder dort, wo man tief im Innern als höchsten Schatz das Bewußtsein von der Unzerstörbarkeit seines Wesens trug und wo man sich dieses Bewußtsein trotz Tod und Teufel, und seien es auch Teufel in Menschengestalt gewesen, nimmer rauben ließ? In welchem Lager standen seit Anbeginn die Geistesheroen der Menschheit, die großen Religionsstifter und Philosophen und „Mystiker" und Heiligen, und standen alle jene Männer und Frauen, hohe und niedriggestellte, deren Leben gleichfalls in Entsagung und tätiger Nächstenliebe aufging: da, wo man die Unierstörbarkeit unseres Wesens lehrte und erlebte, oder da, wo man diese Unzerstörbarkeit bekämpfte und bewitzelte? Was von beiden hat seit Urbeginn bei den Anthropoiden und bei den Brahma's als Religion und als Irreligion gegolten: Die Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres Wesens oder die Lehre von seiner Zerstörbarkeit?
Wohin, auf welche Seite, zu welchen Menschen gehört dann aber auch der Buddha, er, „der alles Edlen Träger hieß"

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